Eine gewisse «asoziale Begabung» hat Karl Heinz Bohrer sich selbst bestätigt. Furios waren seine intellektuellen Grenzgänge und Haltungen. Die Wirklichkeit, auch die politische, war dem Publizisten und Literaturtheoretiker nur Schauspiel. Alles Kostüm und Theater.
Früh sprach Bohrer von der Fantasie als «gefährdet» und von der lähmenden, abgründigen Tristesse des Alltags. Ein Abenteurer des Denkens wollte er sein.
Elitäre Existenz
Zuletzt, im Alter von fast 85 Jahren, hatte er seine Autobiografie vorgelegt und in ausgedehnten Lesereisen präsentiert. Sie zeigt die Lebenspur einer elitären Existenz, die Gewissheit nur aus Opposition bezieht.
Ein Aussenseiter, der nicht erklären will, was sich von selbst versteht, der nicht sucht, was man nur finden kann: das Unerwartete, Überraschende, Plötzliche. Der Begriff «Plötzlichkeit», sein Buchtitel Anfang der 1980er-Jahre, wird ein Markenzeichen des Autors, der seine berufliche Karriere in Frankfurt beginnt.
«Lust am Untergang»
Im konservativen Milieu der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist seine Sympathie für die 68er-Revolte verdächtig und seine Freundschaft mit der späteren RAF-Terroristin Ulrike Meinhof ein Skandal. Die Absetzung als Literaturchef des Blattes wird zum Befreiungsschlag, als Bohrer als Korrespondent nach London geht.
«Ein bisschen Lust am Untergang», nennt er seine Berichte und Reportagen dieser Jahre, die seinen publizistischen Rang und seine intellektuellen Begabungen scharf beleuchten. Politische Umbrüche erfasst er in ihrer ästhetischen Dramaturgie, soziale Revolten in ihrem kulturellen Ausdruck.
Reggae und Punk, Shakespeare und Westminster – alles Überblendungen britischer Verhältnisse, die der Journalist Bohrer literarisch erfasst. Seine Überzeugung: «Verlierer sind immer intelligenter als Gewinner».
Der Intellektuelle seiner Zeit
Er selbst hat sich nicht daran gehalten. Denn man darf ihn zu den Gewinnern rechnen, zu den einflussreichsten Intellektuellen seiner Generation. Als Autor, Hochschullehrer und Herausgeber der Zeitschrift «Merkur» wird er über Jahrzehnte zum analytischen Stichwortgeber deutscher Bewusstseinslagen.
Der Begriff «Gutmensch» etwa ist seine Schöpfung. Mit seiner Frau, der 2002 verstorbenen Schriftstellerin Undine Gruenter, lebt Bohrer in Paris, als seine satirische Typologie deutscher Politik die Debatte prägt. Sein Feindbild bleibt der Konformist – auch in der Berliner Republik.
Mittelmass und Wahn
Provinziell erscheinen ihm durchweg die deutschen Verhältnisse, geprägt von Mittelmass und Mittelstand. «Mittelmass und Wahn», wie Hans Magnus Enzensberger das genannt hat. «Die gefährdete Fantasie», Bohrers erstes Buch, ist Programm.
Es verteidigt die Ästhetik, Kunst und Literatur gegen alle ideologischen Zugriffe. Dabei bleibt es. Bohrer pflegt private Verbindungen und intellektuelle Allianzen, ohne sich je mit einer Gruppe einzulassen. Der Philosoph Jürgen Habermas ist sein Gegenspieler. Die persönliche Freundschaft der beiden ändert nichts daran.
Die Furcht vor Langeweile und die Tristesse des Vorhersehbaren haben Bohrers intellektuelle Haltung bis zuletzt geprägt, auch wenn man spüren konnte, wie sein Einfluss schwand. Er blieb unberechenbar, auch in seinen Einreden zur Gegenwartspolitik. Er war und blieb ein Solitär, ein Abenteurer der Fantasie.