Das Wichtigste in Kürze
- Der Stadtdialekt von Berlin war in den vergangenen 200 Jahren literarisch gesehen eine Protestsprache.
- Die Gedichte, Lieder und Texte, die im Sammelband «Ick kieke, staune, wundre mir» veröffentlicht sind, haben fast immer eine soziale oder politische Dimension.
- Heute ist der Dialekt keine Protestsprache mehr. Die minder privilegierte Schicht der Arbeiter und Kleinbürger, oft Ausländer, sprechen kein Berlinerisch mehr.
Für Touristen und Zuwanderer ist Berlinerisch das, was klischeehaft und werbetauglich daherkommt: typische Wörter wie «Icke», «Kiez» oder «Jottweedee» – die Abkürzung für «janz weit draussen», also sehr abgelegen.
Aber Berlinerisch ist viel mehr als solche Einzelwörter. Der Stadtdialekt von Berlin war in den vergangenen 200 Jahren literarisch gesehen eine Protestsprache.
Nüchtern, direkt, salopp
Die Gedichte, Lieder und Texte, die im Sammelband «Ick kieke, staune, wundre mir» veröffentlicht sind, haben fast immer eine soziale oder politische Dimension.
Sie sind aus der Perspektive und in der Sprache der Unterschicht geschrieben. Die Sprache der Menschen auf den Strassen Berlins war der nüchterne, direkte, saloppe Berliner Dialekt.
Beispielhaft dafür ist die Fischhändlerin Juste Kiekebusch in einem Gedicht von Siegmar Mehring aus dem Jahr 1911.
Zwar lebt sie vom Verkauf ihrer Ware an die gutbetuchten Bürgersfrauen. Aber deswegen lässt sie sich vom Gemäkel dieser Damen nicht beeindrucken. Auch nicht vom Vorwurf, sie sei grob:
Schliesslich frahcht se: ‹Ist det frisch?› Doch da schrei' ick iebern Disch: ‹Fort! Sonst jibbt's wat in de Flanke!› Aber jrob sind? Keen Jedanke!
Die Sprache der «Berliner Milljöhs»
Der Urtypus des Berliner Sprachwitzes heisst Nante und war vor rund 200 Jahren als sogenannter Eckensteher in der Stadt präsent. Ein Dienstbote, der an der Strassenecke bereitstand, um kleinere Dienste auszuführen.
Er verkürzte sich die Wartezeit, indem er Schnaps trank, die Passanten lauthals kommentierte und sich gerne auch prügelte.
Dieser Eckensteher kommt, mit Schiebermütze und draller Dienstmagd am Arm, auch bei Heinrich Zille vor, dem Zeichner des sogenannten «Berliner Milljöhs» der Arbeiterklasse um 1900. Er kommt auch bei Alfred Döblin vor, als Franz Biberkopf im Roman «Berlin Alexanderplatz».
Berüchtigte Berliner Schnauze im Gedicht
Was diese Figuren gemeinsam haben, ist ihr respektloser, witziger und schlagfertiger Blick auf die Herrschenden und ihre Praktiken.
Ob gescheiterte 48er-Revolution, Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nazi-Herrschaft, geteilte Stadt oder die Zeit nach der Wiedervereinigung: Berlin und seine politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse wird in diesen Gedichten stets im schroffen Ton der berüchtigten Berliner Schnauze gespiegelt.
Ein Ton allerdings, hinter dem sich oft die schiere Verzweiflung über die eigene hoffnungslose Situation, die Armut oder die politische Ohnmacht verbirgt. Etwa bei Adolph Glassbrenner in der Mitte des 19. Jahrhunderts:
Ick bin ein braver Untertan Det sieht mir jleich en jeder an; Ertrage ruhig Spott und Schand; Mit Jott vor Keenig un Vaterland!
Nicht zufällig haben die Herausgeber des Gedichtbandes für die Nazizeit praktisch keine Mitläufergedichte auf Berlinerisch gefunden, geschweige denn solche, die den Nationalsozialismus bejahen.
Eine Sprache, die sich auflehnt
Berlinerisch war der Kampfjargon der Arbeiterklasse, meint Mitherausgeber Thilo Bock, die Sprache der Künstler und Kritiker in den Kabaretten, diese Sprache passte nicht zur nationalsozialistischen Kulturdoktrin.
Ein Beispiel ist Walter Mehrings Gedicht «Ode an Berlin» aus dem Jahr 1933, in dem ein jüdischer Mitbürger, aufgewachsen und sozial integriert in Berlin, seine plötzlich antisemitischen Mitbürger anklagt:
Nu brillt ihr: Heil? Und looft im braunen Kittel? Wat denn! Da hat woll eener dran jedreht? … Mir habt Ihr aus de Innung ausjeschlossen? Sach ma, Berlin, Schämste Dir nicht?…
Protestsprache im kommunistischen Ostberlin
Auch in der Periode der geteilten Stadt fungierte Berlinerisch als Protestsprache, vor allem im kommunistischen Ostberlin, wo die Stadtsprache eine Art informeller Gegendialekt zum näselnden Sächsisch des ersten Staatschefs Walter Ulbricht wurde.
Die Berliner Dialekt-Poesie – das beweisen diese Beispiele – kommt seit ihren Anfängen vor rund 200 Jahren aus dem gesellschaftskritischen, proletarisch-künstlerischen Umfeld. Im Gegensatz zur schweizerischen Dialektliteratur im 19. Jahrhundert.
Sie entstand als Reaktion auf die Industrialisierung und auf die grassierende Landflucht, und geriet deshalb zur nostalgischen Verklärung des bedrohten Bauernstandes.
In sechs Wochen Berliner werden
Heute ist Berlinerisch keine Protestsprache mehr. Die minder privilegierte Schicht der Arbeiter und Kleinbürger, das sind heute eher die Türken und Syrer, die Afrikaner und Polen, die kein Berlinerisch sprechen.
Der Stadtdialekt dagegen, oder was davon übriggeblieben ist, ist heute Identifikationssprache geworden für alle, die sich als Berlinerin oder Berliner fühlen. Das müssen keine seit Generationen Ansässige sein, meint Mitherausgeber Ulrich Janetzki.
In sechs Wochen könne man als Zuwanderer Berliner werden, wenn man das wolle. Da seien die Berliner grosszügig.
Sendung: SRF 2 Kultur, Kontext, 5.10.2017, 9.02 Uhr.