Eine blinde Kommissarin als Hauptfigur – was hat Sie daran gereizt?
Andreas Pflüger: Der Gedanke, einen Roman aus der Sicht eines blinden Menschen zu schreiben, kam mir zum ersten Mal bei der Lektüre der Autobiografie von Jaques Lusseyran «Das wiedergefundene Licht». Lusseyran beschreibt darin überaus eindringlich, wie er im Alter von acht Jahren erblindete und danach sein Leben meisterte – als Kopf einer Resistance-Zelle während der Nazizeit in Paris.
Wenn neue Kandidaten sich um Aufnahme in die Zelle bewarben, wurden sie zu Lusseyran geführt, damit er allein ein Gespräch mit ihnen führte. Immerhin bestand die sehr reale Bedrohung, dass es sich um einen Doppelagenten der Nazis handelte.
Wenn es also darum ging, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, galt Lusseyran bei seinen Leuten als unfehlbar. Sie sagten bei jedem Neuen: «Wartet, bis der Blinde ihn gesehen hat.» Als ich das las, war der Gedanke geboren, eine blinde Polizistin ins Zentrum eines Romans zu stellen, denn mit ihrer Fähigkeit, zwischen den Worten zu tasten, das Verborgene zu erfühlen, dem Schall von Lügen zu lauschen, könnte diese Frau eine Gabe besitzen, ja sogar einem Sehenden überlegen sein.
Die Protagonistin Jenny Aaron kann beispielsweise mit dem Bügel einer Sonnenbrille töten, hat eine fast übersinnliche Wahrnehmung, sie trägt Stöckelschuhe, um anhand des Klangs den Raum zu erfassen. Warum so viele besondere Fähigkeiten gebündelt in einer Person?
Andreas Pflüger: Die unterschiedlichen Lebenswege blinder Menschen, die ich bei meiner sehr umfangreichen Recherche kennenlernte, haben mich gelehrt: Das Augenlicht zu verlieren und nicht daran zugrunde zu gehen, heisst sehr oft, ums Überleben zu kämpfen.
Ich habe meiner Heldin ihre herausragenden physischen Gaben auch verliehen, weil das, was dieser Frau geschieht und alles, was sie vermag, ein Gleichnis aufs Leben ist. Aaron wird mit dem Unmöglichen konfrontiert und muss es bewältigen, um nicht zerschmettert zu werden.
Mein Leitgedanke war: Was ist die grösste Herausforderung, vor die ich meine Heldin stellen kann, und wie vermag Aaron sie zu meistern? Das ist eine Parabel auf die Behinderung an sich. Aarons Entschlossenheit, ihrer Sensibilität und ihrem Mut müssen die Sehenden standhalten.
Spiegeln die im Roman geschilderten Ereignisse den realistischen Alltag eines blinden Menschen?
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Selbstverständlich nicht. So wenig wie Raymond Chandler mit seinem Philipp Marlowe das normale Berufsleben eines Detektivs beschreibt. Aber Aarons Blick auf die Welt, das Instrumentarium, dessen sie sich zur Orientierung bedient, ihre besonderen Möglichkeiten, die Wahrheit zu erspüren, ihr Gehör- und Tastsinn ist auf eine Art ein Kompendium dessen, was Blinde in der Realität vermögen. Viele Menschen mit dieser Behinderung leben leider mit dem Gefühl Sehende würden sie als weniger wert erachten. Und genau dagegen schreibe ich an.
Wie sah die Recherche für Ihren Thriller aus – und wie lange haben Sie vorab recherchiert?
Ich liebe es, intensiv zu recherchieren. Dieser Teil meiner Arbeit ist besonders spannend und ermöglicht mir Einblicke in Lebenswelten, die vielen verschlossen bleiben. Einen Thriller mit einer blinden Hauptfigur zu schreiben, der noch dazu überwiegend aus deren Perspektive erzählt ist, war für mich als Sehenden jedoch die grösste Herausforderung, der ich mich jemals gegenübersah.
Zuerst verschaffte ich mir einen Überblick über die Literatur und besorgte mir jeden verfügbaren Titel, der das Thema beleuchtet. Biografien, Interviews mit Blinden, neurologische und psychologische Studien, praktische Ratgeber, Erlebnisberichte. Wer in mein Arbeitszimmer kommt, wird circa einen Regalmeter Fachlektüre finden, dazu mehrere Aktenordner mit Ausdrucken aus dem Internet.
Darüber hinaus führte ich Recherchegespräche mit diversen Experten, einem Neurologen, einem Psychologen und einem Mobilitätstrainer beispielsweise. Anschliessend suchte ich Kontakte zu Blinden. Mit vier Frauen habe ich mich getroffen und dabei über das Leben von Blinden vieles gelernt, was man nur durch persönliche Anschauung und nicht durch ein Buch erfahren kann. Jede dieser Frauen hat mich auf ihre Weise sehr beeindruckt, denn alle vier bewältigen den Alltag ganz bewundernswert. So habe ich nach und nach immer mehr über die Welt von Blinden erfahren.
Zu guter Letzt hatte ich das grosse Glück, dass sich einer der führenden Experten auf dem Gebiet für meinen Roman begeistern liess: Professor Dr. Bernhard Sabel von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seine fachliche Beratung war und ist für mich von unschätzbarem Wert für meine Arbeit. Er hat den Roman gegengelesen und wichtige Anmerkungen gemacht, die zum Gelingen ganz wesentlich beitrugen. Davon profitiere ich noch immer.
Wird es eine Fortsetzung geben?
Ja. Jenny Aarons Geschichte war von Anfang an als Trilogie gedacht, am zweiten Teil sitze ich gerade. Auch wenn ich mir das Projekt als einen einzigen grossen Roman vorgestellt habe, funktioniert der erste Teil für sich. Es bleibt zwar nichts offen, aber die Neugierde darauf, wie es mit meiner Heldin weitergeht, soll er natürlich trotzdem wecken. Im Moment kann ich mir sogar nicht mehr vorstellen, diese Figur überhaupt wieder loszulassen.
Sendung: Radio SRF 1, 14.4.2016, 14.45 Uhr.