Die wenigen Juden und Roma in einem ungarischen Dorf der 70er-Jahre werden nach Strich und Faden diskriminiert. Es wird ihnen ökonomisch der Boden unter den Füssen weggezogen. So verharren sie am äussersten Rand der Gesellschaft im permanenten Überlebenskampf.
Szilárd Borbélys Buch «Die Mittellosen» ist ein erschütternder Roman. Er öffnet uns die Augen dafür, wie in Mitteleuropa elementare Menschenrechte missachtet werden und die Würde von Menschen aufs Gröbste verletzt wird.
Schliesslich wohnt dem Buch eine innere Tragik inne, welche man beim Lesen nicht ausblenden kann. Der Autor schreibt in einem Nachwort, wie sehr ihn die Erinnerungsarbeit für diesen autobiografischen Roman deprimiert, ja erschüttert hat. Borbély hat sich letztes Jahr nach der Niederschrift das Leben genommen.
Namenloses Dorf
In eben diesen 70er-Jahren in einem kleinen Dorf im Nordosten Ungarns wächst ein Junge auf. Es ist die Zeit des kommunistischen Regimes von Janos Kadar. Dieser gewährte Freiheiten wirtschaftlicher Natur, die es Ungarn 1989 bei der Entscheidung erleichterte, den Eisernen Vorhang abzubauen. Dies ist der zeitgeschichtliche Kontext zu Borbélys Roman.
Von dieser Narrenfreiheit spüren der Junge, der erzählt, und seine bettelarme Familie nichts. Sie wird als jüdisch, als Bodensatz des Bauerndorfs, diffamiert. Die Juden und die «Zigeuner» seien Grund allen Übels, meinen die Dorfbewohner. Der Vater wird als Maschinist entlassen. Und sucht monatelang vergeblich neue Arbeit.
Antisemitismus ohne Juden
Beitrag zum Thema
Die ganze Familie wird von den Dörflern, inklusive der «Zigeuner», mit antisemitischen Schmähungen überhäuft. Man schiebt auch innerhalb der namenlosen Familie selbst wie eine heisse Kartoffel hin und her, ob man nun jüdisch sei oder nicht. Der Erzähler, eine Verbindung von dem jugendlichen und dem erwachsenen Autor, treibt diese absurde Scheinfrage auf die Spitze. Denn es scheint, dass in dieser Dorfwelt weit und breit keine Juden sind. Aber das traurige ist nur, dass dies nicht weit entfernt ist von der Wirklichkeit Mitteleuropas. Den Kindern schärft die Mutter ein: «Wir sind Ungarn … denn wir sind in Ungarn.»
Gewalt im Innern
Die Kinder werden von der schwer depressiven Mutter, die ihren Kleinen droht, sich umzubringen, mit Schlägen eingedeckt und mit Liebesentzug bestraft. Es scheint, wie wenn die äussere Gewalt der Dörfler von der Mutter an ihren Nachwuchs weitergegeben würde. Auch die Eheleute untereinander tun sich gegenseitig Qualen an. Der Mann trinkt, die Mutter wirft diesen zum Haus hinaus. Nicht nur die Kinder, sondern auch die Haustiere werden brutal geschunden.
Der Roman liest sich über weite Strecken wie eine sadistische Schlachtanleitung. Das Dorf steht «ausserhalb von allem und sogar ausser der Zeit». Aber der Kern von Borbélys Schlachtengemälde lässt sich in die Gegenwart überführen.
Viel hat sich nicht geändert
Unter der gegenwärtigen ungarischen Regierung von Ministerpräsident Orban, die die demokratischen Rechte systematisch aushöhlt, ist es nicht besser geworden mit dem Minderheitenschutz. Der latente oder offene Antisemitismus sowie die Desintegration der Roma sind nicht wegzureden.
Es scheint, wie wenn sich an Borbélys Welt des Stillstands in dieser Region nicht viel geändert hat. Und es ist das Verdienst des Autors, dessen Mutter bei einem Raubüberfall ermordet worden ist, uns die Augen zu öffnen für eine erschreckende Kontinuität der Geschichte. Die Wurzeln heutiger Diskriminierung sind demnach in den 60er- und 70er-Jahren zu suchen. In der Nachkriegszeit wurde gesät, was heute noch keimt. Darüber hat Szilárd Borbély geschrieben. Und er ist selbst Opfer davon geworden.