Wenn Orhan Pamuk nicht betonen würde, er habe an seinem neuen Roman bereits 2016 angefangen zu schreiben, nachdem er bereits 40 Jahre den Stoff mit sich herumtrage – man könnte es kaum glauben. So sehr legen sich beim Lesen von «Die Nächte der Pest» die Bilder der letzten zwei Jahre über das Geschehen.
Und das, obwohl das Buch ein historischer Roman ist, reine Fiktion, die auf realen historischen Begebenheiten fusst: der Tatsache, dass das Osmanische Reich um 1900 in seinen letzten Zügen lag und die Pest gerade von China ausgehend einen Siegeszug über ganz Asien antrat.
Ein Pestausbruch mit vielen Fakten
Die Insel, auf der Pamuk seinen Roman ansiedelt, sowie ein Grossteil des Personals sind hingegen frei erfunden. Das ist insofern von Bedeutung, als dass Pamuk das Ganze als eine Art «Herausgeber-Fiktion» anlegt.
Eine Historikerin namens Mina Mingerli erzählt von einem Pestausbruch im Jahre 1901 auf einer türkischen Insel namens Minger, auf der sowohl Türken als auch Griechen leben, was damals durchaus üblich war.
Ihren Dokumenten und Überlieferungen folgend, begleitet die Erzählerin die Geschehnisse nach dem Ausbruch der Beulenpest über ungefähr sechs Monate und berichtet über alle Umbrüche und Katastrophen sehr ausladend und mit enormer Sachkenntnis.
Quarantäne und Revolution
Kein Wunder, schwingt beim Lesen unsere Gegenwart mit. Die Quarantäne-Massnahmen sehen beispielsweise vor, dass man sich nicht mehr zu zweit in der Öffentlichkeit bewegen dürfe, die Quarantänesoldaten tragen Gesichtsmasken und Handschuhe, Geschäfte und Kirchen werden geschlossen, die Insel sogar von osmanischen, britischen und französischen Kriegsschiffen abgeriegelt.
Die Insel-Regierung versucht ständig neu, die Ausbreitung der Pest einzudämmen – allerdings erfolglos. Manche Menschen leugnen die Seuche, andere lehnen sich auf, der Nationalismus erstarkt, es finden Hinrichtungen statt, daraufhin Attentate und konspirative Treffen gegen die Machthaber, mehrere Machtwechsel durch Revolution und Putsch.
Kurz: Es herrscht ein unübersichtliches Chaos – bis sich gegen Schluss der knapp 700 Seiten ein unabhängiger Insel-Staat bildet.
Geführt vom Arzt und einer Prinzessin
Pamuk musste wegen des Romans in seiner Heimat leider bereits eine Klage wegen «Beleidigung Atatürks (eine Figur im Buch sei ihm nachempfunden, heisst es) und der türkischen Fahne» über sich ergehen lassen.
Doch zurück zur Fiktion: Beraten wird die Regierung von dem Arzt und Seuchen-Spezialisten Doktor Nuri Bey, den Sultan Abdülhamit II. auf die Insel geschickt hat. Nuri Bey begleitet nun mit seiner Gattin Prinzessin Pakize, die wiederum die Nichte des Sultans ist, diese Umbruchszeit.
Doktor Nuri und Pakize Sultan bilden den roten Faden des Geschehens, wenn man das bei diesem Roman, der nur so von Figuren wimmelt, so nennen kann. Überhaupt überträgt sich das unübersichtliche Chaos bis ins Formale des Romans.
Mittendrin die essenziellen Fragen
Pamuk erzählt zwar in seiner gewohnt atmosphärischen und feinziselierten Art. Trotzdem ist das Buch mit seinen Ausführungen zu den historischen Zusammenhängen, seinen detailverliebten Beschreibungen der Insel-Idylle und dem überbordenden Personal überladen.
Pamuks universales Thema über eine Gesellschaft im Krisenmodus gerät bisweilen beim Lesen fast in Vergessenheit. Dabei sind dies die essenziellen Fragen auch unserer Zeit: Wie verhalten sich der Einzelne, die Gesellschaft, die Entscheidungsträger in einer pandemischen Krise? Wie verhalten sich individuelle Interessen und politische Instrumentalisierung während einer Pandemie zueinander? Und welche Rolle spielen die Wissenschaftler und die Erkenntnisse aus der Forschung?
Das Buch zeigt die Fähigkeit des Menschen, sich auf eine derartige Krise einzustellen – mit allem, was dazu gehört. Im Guten wie im Schlechten.