Im klassischen Krimi entsteht Spannung durch ein Verbrechen und die Jagd nach den Tätern. Unsere drei Lesetipps bieten spannende Lektüre, auch wenn das Verbrechen beinahe Nebensache ist. Dafür gewähren sie fesselnde Einblicke in trostlose Welten, unwirtliche Landschaften und in die menschliche Psyche.
Afonso Reis Cabral: «Aber wir lieben dich»
Dieser Roman basiert auf einem realen Mord, der Portugal 2006 erschüttert hat. Eine Gruppe verwahrloster Jugendlicher im Alter von 12 bis 16 Jahren quälen und töten eine obdachlose, aidskranke Transsexuelle.
Der Roman fasziniert durch die Schilderung der Lebensumstände der Jugendlichen. Sie wachsen in einem Heim auf, in dem sie Gewalt und Missbrauch erleben. Ihre Freizeit verbringen sie in den trostlosen Bauruinen am Rande der Stadt. Dort, wo sich Obdachlose verkriechen und Kriminelle herumtreiben. Es ist eine dystopisch anmutende Welt.
In einer literarischen Kamerafahrt nimmt uns der Autor mit in diese kalten und hässlichen Betonruinen, die von Spekulanten gebaut und nie fertig gestellt wurden. Hier herrscht das Recht des Stärkeren. Hier gibt es keine Kontrolle. Es ist ein gesetzloser Raum, der für die Jugendlichen auch ein Stück Freiheit bedeutet.
In Form einer Doku-Fiktion beschreibt der Autor, wie die Jugendlichen sich zu Beginn mit der Transsexuellen anfreunden und unter Gruppendruck in einen Gewaltrausch geraten. Sie wollen Blut sehen. Der Autor versucht weder, die Tat zu verstehen noch fällt er ein Urteil. Ohne jede Wertung erzählt er sie aus der Ich-Perspektive eines der Jugendlichen. Schockierend und verstörend.
Julia Phillips: «Das Verschwinden Erde»
Petropavlovsk, die Hauptstadt Kamtschatkas, einer Halbinsel ganz im Osten von Russland. Zwei Mädchen, Schwestern, steigen in das Auto eines Unbekannten und verschwinden spurlos. So beginnt die Geschichte, die sich nach Kriminalroman anhört, aber kein klassischer Krimi ist. Die Auflösung des Verbrechens steht nicht im Vordergrund.
Die verschwundenen Mädchen sind zwar unterschwellig immer da, aber sie werden erst im letzten Kapitel wieder zum Thema. Dazwischen zeichnet die Autorin das Portrait einer Gesellschaft in einer für uns unbekannten, exotischen Gegend.
Die Halbinsel Kamtschatka war zur Sowjetzeit militärische Sperrzone. Neben den Russen lebten im schwer zugänglichen Norden indigene, halbnomadische Rentierzüchter. Nach dem Fall der Sowjetunion öffnete sich die Halbinsel. Fremdarbeiter und Touristen kommen in die Gegend.
Doch das Leben in dieser klimatisch unwirtlichen Gegend ist hart und eintönig, gerade für die Frauen, die im Zentrum der einzelnen Episoden stehen, bieten sich wenige Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Die Russen, Indigenen und Fremden haben kaum Kontakt zueinander.
Das Verschwinden der beiden Mädchen führt zu wachsenden Spannungen zwischen diesen Gruppen, das gegenseitige Misstrauen überschattet das Zusammenleben.
Friedrich Ani: «Letzte Ehre»
Friedrich Ani mordet lieber leise als laut. Blut fliesst bei ihm selten. Für ihn steht der Mensch im Zentrum. Er erforscht das Innere seiner Figuren, geht der Psyche auf die Spur. Dabei lässt er sich viel Zeit. Das Erzähltempo oder die künstlich erzeugte Spannung im Plot interessieren ihn nicht. Friedrich Ani schleicht hinter seinen Figuren her, beobachtet sie, nähert sich ihnen an. Er wartet, bis sie sich ihm öffnen.
Das tut er sowohl bei den Tätern und den Opfern wie bei den Ermittlern. Deshalb herrscht in seinen Kriminalromanen eine seltsam stille Atmosphäre. Ani will verstehen, warum Menschen Böses tun. Dafür gräbt er sich in das Leben der Täter ebenso ein wie das der Opfer, holt Verschüttetes ans Licht.
Deshalb gleichen alle seine Romane tiefenpsychologischen Studien. In diesem Roman verschwindet eine junge Frau. Die 17-Jährige kommt nach einer Party nicht mehr nach Hause. Niemand weiss, was mit ihr passiert sein könnte.
Nach und nach aber kommt zutage, dass Machtfantasien und Missbrauch hinter ihrem Verschwinden stecken. Die Gewalt gegen Frauen wird zum eigentlichen Thema dieses Romans. Gewalt, die System hat, und in unserer Gesellschaft in unterschiedlichen Schattierungen nach wie vor verankert ist.