Ocean Vuong ist ein Phänomen: 1988 in Saigon geboren, emigrierte er zwei Jahre später mit Mutter und Grossmutter in die USA. Er wuchs in ärmsten Verhältnissen auf. Englisch lernte er nur langsam. In der Schule blieb er, als schmächtiger Asiate und als Homosexueller, ein Aussenseiter.
Heute gehört er zu den vielversprechendsten Autoren Amerikas, wird mit Preisen überhäuft und unterrichtet an einer Uni.
Ein verlogener Mythos
Ocean Vuong, so könnte man meinen, verkörpert den klassischen amerikanischen Traum: Ein Flüchtling, der es ganz nach oben geschafft hat.
Dabei besticht aber sein Roman genau dadurch, dass der junge Autor das Scheitern dieses Mythos aufzeigt. Amerika habe es bis heute versäumt, sich mit seiner eigenen Vergangenheit zu beschäftigen, sagt er.
Kein Wunder: Am Anfang der USA stehe die Erbsünde, der Mord an Tausenden von Eingeborenen. «Da klammert man sich lieber an die Illusion, die weissen Einwanderer seien auf diesem Kontinent die ersten Siedler gewesen.»
Das andere Amerika
Ocean Vuongs Roman entstand auf der Folie seines eigenen Lebens. Er ist ein einziger langer Brief an seine Mutter. Sie wird ihn allerdings nie lesen können, denn sie ist Analphabetin.
Vielleicht fällt es dem Ich-Erzähler «Little Dog» vor dieser Tatsache leichter, von Verletzungen, Sehnsüchten und Verzweiflungen zu erzählen.
Auch wenn Ocean Vuong hier eine sehr persönliche Geschichte vorlegt, ist sie hochpolitisch: Denn durch seine Perspektive begegnen wir einem Amerika, wie wir es so noch selten in der Literatur angetroffen haben.
Die Opioid-Krise
Ocean Vuong thematisiert zum Beispiel eine Kindheit im Schatten von 9/11: Er war 13 Jahre alt, als die Türme in New York einstürzten und man fortan nicht länger auf der Strasse spielen durfte.
Viele Jugendliche seiner Generation wurden Opfer der Opioid-Krise: Sie schluckten ein billiges, stark süchtig machendes Schmerzmittel, das von der Pharmaindustrie als billiges Heroin auf den Markt geschmissen wurde.
Rettung durch Bücher
Ocean Vuong blieb verschont, «weil ich stark mit Büchern beschäftigt war». Überhaupt habe ihn die Literatur gerettet, sagt er im Rückblick: «Beim Lesen habe ich realisiert, dass es zur ‹condition humaine› gehört, mit einem schwierigen Schicksal fertig zu werden.»
Ocean Vuong ist in Vietnam zwar erst lange nach dem Abzug der amerikanischen Truppen geboren worden, aber die regelmässigen Gewaltausbrüche seiner Mutter machten ihn ebenfalls zum Opfer.
Ein halber Tag für Vietnam
«Wann endet ein Krieg» fragt «Little Dog» im Roman. «Wann kann ich deinen Namen sagen und nur deinen Namen meinen und nicht das, was du hinter dir gelassen hast?».
Der Vietnamkrieg sei auch so ein Tabu, das die USA nie aufgearbeitet habe, betont Ocean Vuong. Im Geschichtsunterricht habe man sich vier Wochen lang mit George Washington beschäftigt, aber nur gerade einen halben Tag mit Vietnam. «Alles musste schnell, schnell, schnell abgehandelt werden.»
Schön und unverbraucht
Poesie beginnt dort, wo die Schlagzeilen aufhören, sagt Ocean Vuong in einem Gedicht. So schafft dieser junge Dichter das Glanzstück, uns eine erschütternde Geschichte zu präsentieren und uns trotzdem beglückt aus dem Roman wieder zu entlassen.
Weil wir uns laben können an seiner Sprache, die so innovativ, schön und unverbraucht daher kommt. Und weil wir wieder einmal erleben, wozu grosse Literatur fähig ist.