Kaum eine Autorin hat in den letzten Jahren so viel Begeisterung ausgelöst wie Elena Ferrante – bei Kritik und Publikum. «Meine geniale Freundin» läuft im Herbst sogar als Serie bei SRF an.
Nach dem Riesen-Erfolg ihrer grossen Neapolitanischen Saga legt der Suhrkamp Verlag jetzt einen Roman nach dem anderen neu auf. Aktuell «Frau im Dunkeln», im Original 2006 erschienen. Ein spannendes Buch – mutig im Thema, ungeheuer feinsinnig in seiner Umsetzung.
Professorin klaut Puppe
Im Zentrum steht eine Frau namens Leda, knapp 50 Jahre alt, Anglistik-Professorin und Mutter von zwei Töchtern, die bereits aus dem Haus sind. Nun macht sie allein Ferien am Strand irgendwo in Süditalien.
Dort beobachtet sie Tag für Tag einen neapolitanischen Familienclan, darunter vor allem eine junge Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Und plötzlich – in einem Moment des Chaos – klaut Leda aus einem Impuls heraus diesem Mädchen ihre Puppe und nimmt sie mit zu sich in die Ferienwohnung.
Schonungslos und schmerzhaft
Sie weiss selbst nicht recht, warum. Aber diese Puppe zu haben, setzt bei Leda ungeahnte Stimmungen und Erinnerungen frei. An ihre eigenen Kinder zum Beispiel, zu denen sie eine durchaus ambivalente Beziehung hat.
Und mit einem Mal muss sich Leda mit ihrer Mutterrolle neu auseinandersetzen: schonungslos ehrlich, was auch sehr schmerzhaft ist.
Tiefsinniges auf der Höhe der Zeit
Das Buch ist zwar aus dem Jahr 2006. Es trifft aber mit diesem Tabubruch mitten ins Herz der sogenannten «regretting motherhood»-Debatte – jener Diskussion darüber also, ob eine Mutter auch Bedauern über die Mutterschaft empfinden darf. Es geht in «Frau im Dunkeln» also auch um die Vereinbarkeit der Mutterschaft mit anderen Lebensbereichen.
Das ist harte Lesekost – und hochgradig aktuell. Es gibt zahlreiche Essays zu diesem Thema von jungen Frauen wie Sheila Heti beispielsweise, Orna Donath oder Rebecca Solnit. Im Gegensatz dazu ist dieser Roman die literarische Herangehensweise, motivisch ganz fein verwoben und eindringlich beschrieben.
Aber Elena Ferrante begeht nicht den Fehler, die Mutterschaft schwarz-weiss zu malen – sondern sie zeigt sie in all ihrer Ambivalenz. Die Puppe zum Beispiel symbolisiert auf der einen Seite das Kind an sich.
Andererseits beschreibt Leda an einer Stelle, wie sie sich selbst oft als Puppe gefühlt hat. Dann, wenn ihre Kinder in jungen Jahren einfach mit ihr gemacht haben, wonach ihnen gerade der Sinn stand.
Diese Ambivalenz zeigt sich auch in Ledas Leben: Erst bricht sie aus der Enge ihrer neapolitanischen Familie aus, dann manövriert sie sich mit ihren Kindern in eine andere Enge hinein.
Es geht also um Selbstverwirklichung und ihre Grenzen, um Mutterliebe und -leid und darum, wie man sein Leben selbstbestimmt und trotzdem liebend gestalten kann. Ganz grosse Literatur, wie man sie von Elena Ferrante kennt.