Frank Wedekind heisst eigentlich Benjamin Franklin. Seine Eltern – glühende Demokraten und Republikaner – haben ihn nach einem der Gründerväter der USA benannt.
Nun sitzt dieser Frank Wedekind alias Benjamin Franklin zwischen zwei Bordellbesuchen in einer Dachkammer in Paris und isst Datteln. Dachkammer wie Datteln gehören einer alten und verarmten Dame, die dem jungen Mann gerade ihr Leben erzählt.
Sex und Freiheit
So beginnt Dirk Kurbjuweits Roman «Die Freiheit der Emma Herwegh». Die alte Dame ist Emma Herwegh – einst eine junge, schöne und vor allem reiche Frau. Sie erzählt dem jungen und offenbar in die über 50 Jahre ältere Frau verliebten Schriftsteller von der Herzen-Affäre.
Wie ihr Mann, der Dichterstar und politische Freiheitheld Georg Herwegh seine persönliche Freiheit auch sexuell auslebt. Im Bett von Natalie, der Ehefrau seines besten Freundes Alexander Herzen.
Dabei hatte Emma doch einen Plan. Sie wollte «zusammen lieben und hassen». Mit Georg. Sprich: die grosse, romantische Liebe zu ihrem Georg sollte das Ziel haben, gemeinsam für das Gute zu kämpfen – die Republik, die Demokratie, die Verfassung. Das taten sie tatsächlich auch. Beide, Georg wie Emma, widmeten ihr Leben dem Freiheitskampf. Und nahmen dabei eine Menge auf sich.
Ab nach Paris
Ausgehend von der Pariser Dachkammer zeichnet Dirk Kurbjuweit dieses Leben für die Freiheit nach. Wie Emma als Tochter eines wohlhabenden Seidenhändlers und königlichen Stofflieferanten am Berliner Schlossplatz aufwächst und aus Begeisterung für den damals tobenden polnischen Freiheitskampf gegen den russischen Zaren politisch wird.
Wie sie den Stardichter Georg Herwegh, der gerade mit seinem Erfolgsband «Gedichte eines lebendigen» auf Deutschlandtournee ist, in ihr Elternhaus lotst und vier Monate später heiratet.
Wie sie mit ihm nach Paris zieht, weil er unterdessen aus Deutschland ausgebürgert ist, um dort einen Salon zu eröffnen, wo Marx und Heine, Liszt und Chopin, Bakunin und Herzen verkehren.
Und wie sie von dort aus im Revolutionsjahr 1848 mit einer Gruppe schlecht bewaffneter deutscher Arbeiter in die südbadische Revolution zieht und dort militärisch wie politisch Schiffbruch erleidet.
Scheitern, Spott, Schweiz
Dirk Kurbjuweit beschreibt auch den Niedergang. Wie Georg zum Gespött halb Europas wird, weil er sich nach der Niederlage in Südbaden unter einer Spritzdecke versteckt von Emma in die sichere Schweiz fahren lässt.
Wie die Herweghs verarmen, weil sie nach der Revolution vom Geld der Familie abgeschnitten sind. Und wie ihre Ehe beinahe scheitert, weil Georg nicht von anderen Frauen lassen kann.
All das ist toll recherchiert und wunderbar erzählt. Mit der Freiheit aber, die Kurbjuweit analog zur 1968er-Revolte auch im Sexuellen sucht, hapert es ein wenig.
Wohl gab es auch im Vormärz Bestrebungen, die Liebe zu «entprivatisieren». Gerade in Emmas Pariser Freundeskreis wollten die Marxens und Ruges mit den Herweghs eine Kommune aufmachen. Für Emma aber war das kein Thema. Nie.
Zwei Menschen, ein Ganzes
Emmas Idee war die romantische Liebe. Das Konzept, das besagt, dass zwei Menschen zusammen ein Ganzes bilden. Ihre Freiheit lag darin, sich bewusst für dieses Konzept zu entscheiden, auch wenn die andere Hälfte in fremden Betten lag.
In dem Punkt könnte der Roman etwas genauer sein. Trotzdem ist es ein wichtiges Buch und gehört gelesen. Denn erstens erinnert er an eine der schillerndsten Frauenfiguren des 19. Jahrhunderts und an die grosse Epoche der 1848er-Revolution. Und zweitens stellt es mit dem Fokus auf die Freiheit eine höchst aktuelle Frage: Wie steht es um sie? In Zeiten von Trump und Rechtspopulismus aktueller denn je.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 10.5.2012, 9:03 Uhr.