Manchmal kann eine kleine, poetische Geschichte prophetisch sein. Liest man Ilya Kaminskys «Republik der Taubheit», legen sich die aktuellen Bilder aus Odessa oder Mariupol über all die Bilder, die der Autor in seiner Geschichte geschaffen hat.
Dabei ist der Text bereits 2019 – unter dem Titel «Deaf Republic» – auf Englisch erschienen und brachte Kaminsky Aufmerksamkeit und Preise ein. Kaminsky beschreibt in seinem Roman die Gewalt des Krieges reduziert und dennoch vieldeutig. Er beschreibt, wie es sich anfühlt, sprachlos einem Krieg zuzuschauen.
Ilya Kaminsky ist ein hochbegabter Dichter, der in Odessa in der damaligen Sowjetunion geboren ist und heute in den USA lebt. Sein schmales Buch zeichnet in mehreren Gedichten das Leben in einer Stadt unter Besatzung nach. Dabei spielt Kaminsky auf allen Registern: fügt seine Gedichte so spannend aneinander, dass man sich kaum entziehen kann.
Eine Stadt stellt sich taub
Die Geschichte ist recht übersichtlich: Sie spielt in der erfundenen Stadt Vasenka, die von Soldaten besetzt wird. Öffentliche Aufführungen sind verboten. Trotzdem findet auf dem Marktplatz ein Puppenspiel statt. Als Soldaten auftauchen und die Aufführung stören, spuckt ein tauber Junge auf sie – und wird erschossen.
Ilya Kaminsky zeichnet starke, poetische Bilder: «Der Körper des Jungen liegt auf dem Asphalt wie eine Büroklammer» schreibt er. Und er findet ein bewegendes, ungewöhnliches Bild für Solidarität und Widerstand: Die gesamte Stadt stellt sich taub, aus Protest über den Mord an dem Jungen. Solidarität und Widerstand durch Stille. Der Protest erweist sich jedoch als untauglich. Alle wichtigen Personen verlieren ihr Leben.
Dennoch erzählt Kaminsky bei allem Schrecken auch von hellen Momenten in der besetzten Stadt. Er beschreibt die Liebe des Puppenspielerpaars Sonya und Alfonso, das mitten im Krieg ein Kind bekommt.
Aus einem «Land ohne Ton»
Ilya Kaminsky versteht sich selbst als «ukrainisch-russisch-jüdisch-amerikanischen Dichter». Er hat an diesem Text zehn Jahre gearbeitet. Dessen Tiefe speist sich auch aus der Biografie des Autors. Kaminsky erkrankte mit vier Jahren in seiner Geburtsstadt Odessa an Mumps und verlor fast vollständig sein Gehör. Die Sowjetunion war für ihn «das Land ohne Ton», wie er mehrmals in Interviews beschreibt.
Nach ihrem Zerfall emigrierte Kaminskys Familie 1993 in die USA. Erst dort bekam der Sohn sein erstes Hörgerät. Seinen kraftvollen Text kann man auch als eine Auseinandersetzung mit seiner Biografie lesen. Zudem ist ihm die blutige Geschichte der Ukraine auf schmerzhafte Weise bekannt. Auch dies trägt dazu bei, dass wir beim Lesen seiner Parabel die Bilder des aktuellen Krieges erschreckend vor Augen haben.
Reduziert und trotzdem reichhaltig
Es passiert nicht oft, dass ein kurzer, vor allem lyrischer Text ein so grosses Echo findet. Kaminsky hat eine Mischung aus Märchen, Klagelied und Liebesgedicht geschrieben, die eine zeitlose Wirkung entfaltet. Immer wieder brechen seine Verse ab.
Immer wieder widerruft er die sprachlichen Bilder, die er gerade erzeugt hat. Dazu arbeitet er mit einer Gebärdensprache, deren Zeichen sein Buch auch optisch prägen.
Kaminskys Sprache schöpft alle Mittel aus, um die reduzierte Geschichte so berührend zu machen, wie sie ist. Und den Lesenden die eigene Sprachlosigkeit angesichts von Krieg und Gewalt spürbar zu machen.
Ilya Kaminsky hat mit seinem schmalen Buch einen kleinen zeitgenössischen Mythos geschaffen. Einen Text, der so reichhaltig ist, dass man ihn mehrmals und immer wieder lesen sollte. Gerade in diesem Sommer des Krieges.