Wer hat nicht ab und zu mal die Nase voll und möchte abhauen? In Peter Stamms neuem Roman «Weit über das Land» steht ein Mann auf, geht und kommt nicht wieder: «Thomas stand auf und ging auf dem schmalen Kiesweg am Haus entlang. An der Ecke angelangt, zögerte er einen Augenblick, dann bog er mit einem erstaunten Lächeln, das er mehr wahrnahm als empfand, zum Gartentor ab.»
Er verlässt Frau und Kinder. Einfach so, ohne jede Erklärung. Astrid, seine Frau, glaubt zuerst noch an eine banale Erklärung für sein Verschwinden. Sagt den Kindern, ihr Papa sei geschäftlich verreist und seinem Chef, er sei krank. Aber schon bald spürt sie, dass er tatsächlich nicht mehr kommt.
Peter Stamm erzählt die Geschichte aus der Perspektive dieser beiden Menschen. Zeigt, wie Thomas alles Bisherige loslässt und wie Astrid sein Wegbleiben mit der Zeit akzeptiert und sich dann sogar vor einem Wiedersehen fürchtet.
Diese Geschichte lässt einen nachdenken über das eigene Leben und über das, was wir jeden Tag so machen, ohne dass wir uns dabei etwas denken. Es stellt sich auch die Frage: Was wäre, wenn wir plötzlich ein «Niemand» wären. Ein schöner, ruhiger Roman, raffiniert erzählt in einer schlichten Sprache, reduziert aufs Wesentliche.
Peter Stamm, mit dem Verschwinden aus seinem bisherigen Leben wird Thomas auch seine ganze Geschichte los. Sie schreiben: «Thomas lebt nun ohne Vergangenheit und ohne Zukunft», er lässt sich nur noch treiben. Wie möchte er denn leben?
Peter Stamm: Er möchte ein «Niemand» sein. Er möchte ein «Unleben» führen, in dem es keinen Schmerz mehr gibt. Denn alles, was man sich aufbaut, jede Beziehung, die man eingeht, beinhaltet einen Verlust. Dieser kommt irgendwann mal mit dem Tod, einer Trennung oder auch nur mit dem Weggehen der Kinder, die erwachsen werden. Das vermeidet man, indem man keine Bindung eingeht. Und wenn man keine Perspektive hat, kann einem nichts weggenommen werden.
Thomas verschwindet, ohne ein Wort und ohne Erklärung. Man kann sich kaum vorstellen, was das für seine Frau bedeutet. Sie zeigen eindrücklich, wie Astrid funktioniert, wie sie Thomas lange deckt und schon fast zu seiner Komplizin wird. Verstehen Sie das?
Ihr Verhalten ist verständlich. Sie ist wohl eine typische Schweizerin. Wenn so etwas passiert, dann ist es erst mal peinlich, man möchte lieber unter den Teppich zu wischen. Und dann erlebt sie die verschiedenen Phasen der Trauer. Ist ja ähnlich, wie wenn jemand unerwartet stirbt.
Wie würden Sie Ihre beiden Hauptfiguren charakterisieren?
Einen Menschen nur kurz beschreiben ist schwierig. Darum schreibe ich Bücher, um einem Menschen gerecht zu werden. Gebe ihm Platz, um sich zu zeigen. Mir war wichtig, dass sie beide ganz durchschnittliche Menschen sind. Sie haben normale Berufe, stehen ganz normal im Leben. Sie sind angepasst, nett, wären bestimmt gute Nachbarn.
War es schwierig, diese Figuren zu entwickeln?
Die amerikanische Schreibschule sagt, man müsse wissen, wie eine Figur aufgewachsen ist, ihre Familie kennen und so weiter. Das ist für mich Quatsch. Meine Figuren entstehen im Schreiben. Ich lasse sie einfach los und schaue dann, was sie tun. Es ist ein langsames Kennenlernen während des Schreibens. Am Anfang kenne ich nur ihren Beruf, ihr Alter und wie sie heissen. Das ist alles.
Sie lassen Ihre Figuren einfach los. Machen die denn gar nicht immer das, was Sie wollen?
Ich probiere, nichts von ihnen zu verlangen. Ich lasse sie erst mal machen. Das tönt jetzt etwas esoterisch (lacht). Und natürlich habe ich schon in meinem Kopf, was passieren soll. Meine Aufgabe ist es dann, meine Figuren lebendig zu machen. Und wenn sie lebendig werden, machen sie Sachen. Das klappt nicht immer. Ich hatte mal ein grosses Romanprojekt, das ist gescheitert, weil die Figur nichts mehr gemacht hat. Sie ist einfach stehen geblieben.
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Wann ist eine Romanfigur eine lebendige Romanfigur?
Das muss gleich am Anfang passieren. Wenn es nicht passiert, wird nichts aus dem Text. Wenn ich nicht spüre, was die Figur in einer bestimmten Situation machen will, dann kann ich nichts schreiben. Sie muss von Anfang an da sein. Ist schwer zu erklären, es ist vielleicht wie bei einem Schauspieler, der eine Figur spielt. Der muss auch vom ersten Moment an in der Rolle drin sein.
Peter Stamm, Sie schreiben viel über Frauen. Wie kann man sich als Mann in eine Frau hinein fühlen?
Das mache ich gern! Das ist wie Theaterspielen. Das macht auch Spass. Und eine Frau ist ja nicht so wahnsinnig anders als ein Mann. Ich hätte mehr Mühe, mich in einen Massenmörder hineinzuversetzen. Oder in einen SVP-Nationalrat. Ich kann eine Frau, die in einer ähnlichen Lebenssituation ist, gut verstehen.
Haben Sie lieber Figuren, die Ihnen ähnlich sind, oder solche, die ganz anders sind?
Eher ähnlich. Es gibt eine Literatur, die auf Exotik setzt. Da geht es nur darum, möglichst extreme Geschichten zu erzählen und möglichst ausgefallene Figuren zu kreieren. Das hat mich nie interessiert. Das ist ähnlich in der Malerei. Die meisten Maler malen auch ganz normale Sachen. Die malen drei Äpfel in einer Schale, die malen einen Berg, der vor dem Haus steht. Nur Stümper malen das Matterhorn. Und wieso soll ich extreme Figuren erfinden, wenn es rundherum Menschen gibt, die genauso interessant sind? Und übrigens: Es ist eine viel grössere Herausforderung einen Durchschnittsmenschen zu beschreiben.