«Big brother is watching you» – den meisten dürften George Orwells Worte noch aus der Schulzeit bekannt sein. Der Autor ist seit 67 Jahren tot, doch sein düsterer Zukunftsroman «1984» lebt weiter. Er war heute in den USA das meistverkaufte Buch des Internethändlers Amazon.
Der Grund: Eine amerikanische Journalistin sagte in einer Gesprächsrunde des Senders CNN, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen, sie fühle sich durch den Begriff «alternative Fakten», den eine Beraterin Donald Trumps geäussert hatte, an Orwells fiktiven Überwachungsstaat aus «1984» erinnert.
Dass diese Parallelen gezogen werden, ist kein Zufall, sagt Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn.
SRF: Inwiefern überrascht Sie dieser Vergleich von George Orwells dystopischem Roman «1984» und der amerikanischen Gegenwart unter Trump?
Philipp Theisohn: Er überrascht mich kaum. Wenn wir dystopische Literatur lesen, sei es Orwells «1984», Aldous Huxleys «Schöne neue Welt» oder auch Jules Vernes «Paris au XXe siècle», dann sind die Welten, die wir in diesen Büchern vorfinden, nicht einfach nur grausig.
Die Figuren in diesen Romanen haben vielmehr den Eindruck, sie lebten in einer Welt, die vollkommen ist, in der für sie gesorgt wird und in der sie nicht bedroht werden.
Romane wie «1984» zeigen über den Blick von aussen, dass genau dieses Einstimmen in den Konsens, dieses Wohlfühlen, das narkotisierte bürgerliche Leben das Dystopische ausmachen.
Insofern überrascht es mich nicht, dass im Umfeld der neuen Präsidentschaft in den USA genau solche dystopischen Geschichten wieder aufkommen: Weil dort auch die Gefahr besteht, dass man so tut, als ob eigentlich gar nichts sei, statt das Bewusstsein zu behalten, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt.
«1984» ist in diesem Sinne eine wunderbare Lektüre, um die Wirklichkeit, in der man in der USA zurzeit lebt, neu zu deuten.
Orwell schrieb «1984» bereits 1949. Literatur kann auf politische Ereignisse reagieren – inwiefern kann sie sie auch voraussagen?
Science-Fiction-Literatur ist keine, die sich vornimmt, bestimmte Ereignisse vorherzusagen – sehr wohl aber bestimmte Konstellationen. Sie klopft unsere Gegenwart ab und fragt: Was könnte noch kommen?
Literatur klopft unsere Gegenwart ab.
Literatur kann die Wirklichkeit sehr präzise beschreiben. Und sie ganz anders erkunden, als zum Beispiel ein Prognostiker es tun kann. Ein konkretes Beispiel: In Frankreich gibt es zum einen den Roman des Soziologen Michel Wieviorka: «Marine Le Pen Présidente».
Demgegenüber steht Michel Hoeullebecqs «Unterwerfung», in dem es darum geht, dass der Front National verhindert wird und eine islamische Partei den Premierminister von Frankreich stellt.
Inwiefern haben solche fiktiven Romane das Potenzial, in die politische Sphäre zu wirken?
Das haben sie durchaus – man darf Literatur nicht zu klein machen. «1984» ist vielleicht das beste Beispiel: Begriffe wie «Newspeak», «Neusprech», die wir aus diesem Text kennen, prägen unseren Umgang mit der Gegenwart.
Es ist ja nicht so, dass nun urplötzlich wieder Orwell gelesen wird, ohne dass man weiss, warum. Sondern die Leute greifen wieder zu Orwell, weil sie wissen: die aktuelle Gegenwart hat etwas mit seiner Erzählung zu tun.
Dieser Text ist so weit in unser kulturelles Bewusstsein eingesickert, dass wir aktuell einfach darauf zurückgreifen können. Insofern prägt Literatur stets unsere Wahrnehmung der politischen, kulturellen und sozialen Wirklichkeit.
Das hat nicht dazu geführt, dass in den USA jemand anderes gewählt wurde als Donald Trump. Doch Literatur kann dazu beitragen, dass wir die Geschehnisse nicht einfach naiv betrachten, sondern dass wir sie wach betrachten.
Weshalb faszinieren uns dystopische Gesellschaftsentwürfe so sehr?
Dystopien sind ja erst mal spannender als Utopien. Denn zum einen ist in ihnen alles Gegenwärtige schon geschehen und abgegolten. Vieles ist kaputtgegangen und man muss unter ganz neuen Bedingungen von vorne anfangen. Das ist der utopische Charakter der Dystopie: Sie radiert alles aus. Das ist furchtbar, aber enthält auch ein befreiendes Element.
Der utopische Charakter der Dystopie: Sie radiert alles aus.
Zum anderen ist die Dystopie eine Art Frühwarnsystem. Wir merken beim Lesen: was wir in der Fiktion vorfinden, ist gar nicht so weit weg, es gibt Wege, die führen von unserer Gegenwart direkt dort hin. In diesem Sinne hat die Dystopie auch eine präventive Funktion.
Bieten dystopische Bücher also auch eine Orientierungshilfe?
Ich glaube nicht, das es ein Buch gibt, dass uns dabei hilft, uns immun zu machen gegen Populismus und Radikalismus. Aber was immer hilft: Lesen. Denn Lesen fördert die kritische Auseinandersetzung und hilft uns, die Gegenwart eingehender zu betrachten.
Von augenzwinkernd bis zappenduster
Diese fünf Dystopien empfehlen wir für eine kritische oder humorvolle Auseinandersetzung mit der Gegenwart:
1. «Designated Survivor» (seit 2016)
Die Ausgangslage: Bei einer Explosion sterben der US-Präsident, sein Kabinett und alle Mitglieder des Kongresses. Nur ein Mann überlebt: Tom Kirkman, ein Bürokrat ohne Führungsambitionen, gespielt von Kiefer Sutherland. Dieser wird als neuer Präsident vereidigt. Ein unsicherer Politiker als mächtigster Mann der Welt? «Designated Survivor» ist eine unserer Lieblingsserien des letzten Jahres.
2. «The Plot against America» (2004)
Philip Roths Roman vermischt Fakten und Fiktion. Der amerikanische Schriftsteller blickt auf seine Kindheit in einer jüdischen Familie zu Beginn des 2. Weltkriegs zurück. Nach dem Prinzip: «Was wäre, wenn?» Denn in Roths Roman hat nicht Franklin D. Roosevelt die Wahl zum Präsident gewonnen, sondern Charles Lindbergh, der mit den Faschisten liebäugelt – und Sprecher des «America First Committee» ist.
3. «The Man in the High Castle» (seit 2015)
Basierend auf dem Roman «Das Orakel vom Berge» von Philip K. Dick spielt die Serie von Amazon in einem alternativ-historischen Jahr 1962. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei – gewonnen haben ihn Deutschland und Japan. Die USA sind von Faschisten besetzt und zwischen den beiden neuen Grossmächten aufgeteilt. Klingt abgefahren? Ist die Serie auch. Die dritte Staffel wurde bereits in Auftrag gegeben.
4. «Idiocracy» (2006)
Idiocracy ist eine Science-Fiction-Komödie des amerikanischen Regisseurs Mike Judge. Der Film spielt im Jahr 2505: Ein absolut durchschnittlicher Amerikaner erwacht nach einem Kälteschlaf-Experiment. Und hat plötzlich allerhand zu tun: denn er findet sich in einer verblödeten Gesellschaft wieder. Kritisches Denken und Bildung sind beinahe ausgestorben. Und ein Wrestler ist Präsident der USA.
5. Boualem Sansal: «2084» (2015)
Der Titel verrät's: Boualem Sansal «2084» ist an Orwell angelehnt. Mit ihm gemeinsam hat der algerische Autor den dystopisch-düsteren Blick auf eine Zukunft, die durch Totalitarismus geprägt ist. Sansal schildert ein fiktives Europa, in dem der Islam die Macht übernommen hat. Ein umstrittener Roman: Friedenspreisträger Boualem Sansal bediene damit bloss Ängste, meint Tim Guldimann im SRF-Literaturclub: «Es ist nicht lustig, das zu lesen».
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Blick in die Feuilletons, 25.01.2017, 07:50 Uhr