«Diese Geschichte war ein kosmisches Geschenk», schwärmt der österreichische Erfolgsautor Franzobel. Er habe «gar nicht anders gekonnt», als diesen Roman zu schreiben. Tatsächlich liest man «Einsteins Hirn» mit ungläubigem Staunen und zweifelt, ob das wirklich sein kann, was da auf den rund 550 Seiten steht.
Natürlich stimmt längst nicht alles. Vieles ist satirisch überzeichnet, grotesk zugespitzt und bis ins Fantastische gesteigert. So wie man dies vom 56-jährigen Österreicher gewohnt ist.
Historische Grundlage
Doch in «Einsteins Hirn» gibt es einen wahren Kern: Als das Jahrhundertgenie Albert Einstein 1955 in Princeton starb, entnahm ihm der diensthabende Pathologe Thomas Harvey am örtlichen Spital das Gehirn.
Harvey, beeindruckt von Einsteins Genialität, war beseelt von der Idee, in der Struktur des Hirns die Ursache für die herausragende Intelligenz des Physik-Titanen zu finden. Der Pathologe legte dessen Hirnwindungen in Einmachgläser – und rückte diese nicht mehr heraus. Über Jahrzehnte nicht.
Zu wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangte Harvey bis zu seinem Tod 2007 nie. Kein Wunder, denn er verstand nichts von Hirnforschung. Auch die Sachverständigen, die er beizog, blieben ratlos.
Das Gehirn als Mysterium
Was nicht erstaunt: Heute geht die Hirnforschung davon aus, dass sich die geistigen Kräfte eines Menschen kaum an äusseren Auffälligkeiten des Gehirns ablesen lassen. Sondern vielmehr daran, wie die Milliarden von Hirnzellen miteinander kommunizieren. Vieles ist aber noch immer unklar.
Guten literarischen Stoff bietet die Geschichte des realen Thomas Harvey allemal. Franzobel folgt seiner Figur im Roman über Jahrzehnte und schildert, wie Harvey immer wieder verkündet, kurz vor dem wissenschaftlichen Durchbruch zu stehen. Stattdessen starrt er oft über Stunden stumpfsinnig auf die Einmachgläser.
Der Einbruch des Fantastischen
Doch Franzobel wäre nicht Franzobel, wenn nicht plötzlich etwas Unerwartetes einträte: Das eingelegte Hirn Einsteins beginnt plötzlich mit Harvey zu sprechen. Dies ist der schönste groteske Einfall des Romans.
In tiefsinnigen Gesprächen versucht das Gehirn des rationalen Einsteins den Pathologen von dessen Gottesglauben abzubringen. Harvey ist Quäker: Angehöriger einer mystischen, christlichen Gemeinschaft, die sich sozial engagiert. Deshalb ist er im Gegenzug überzeugt, dem unruhigen Präparat Erlösung verschaffen zu müssen.
In köstlich-grotesken Szenen schleppt Harvey die Gläser zu Prostituierten, wirft Drogen hinein, besucht Vertreter der Weltreligionen und einen Psychoanalytiker. Dabei kommen die grossen Fragen der Menschheit zur Sprache: Woher kommen wir, wohin gehen wir?
Harveys sozialer Abstieg
Derweil geht es mit Thomas Harvey abwärts, beruflich wie privat. Niemand will mehr etwas mit dem «Spinner» zu tun haben. Nach Scheidung und Jobverlust endet Harvey als Hilfsarbeiter.
Zu viel Mitgefühl mit seiner Romanfigur lässt Franzobel nicht aufkommen. Dafür sorgen die satirischen Einlagen, für welche die ebenso liebenswürdige wie verrückte Figur – wenn auch unfreiwillig – immer wieder sorgt.
Dieses Erzählverfahren nützt sich über die Länge des Romans allerdings ab. Der Reiz des Schrägen verliert an Attraktivität. Und so bleibt auch dieser Eindruck von diesem inhaltlich und sprachlich originellen Roman: Kürzungen, und nicht zu knapp bemessene, hätten ihm gutgetan.