Italien ist zu Recht stolz auf seine reiche Literatur. Das Land ist Ehrengast an der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Doch was lesen – wenn man durch ist mit Ferrante oder Saviano? Tatiana Crivelli, Professorin für italienische Literatur an der Universität Zürich und profunde Kennerin der älteren und aktuellen Literatur aus Italien, empfiehlt fünf zeitlose Titel, die es in sich haben.
1. Giacomo Leopardi: «Opuscula moralia»
«Mein Buch schlechthin», schwärmt Tatiana Crivelli. Zwar ist «Opuscula moralia» bereits 1827 erschienen. Staub angesetzt habe es deswegen aber nicht. Es sei heute so aktuell wie damals.
Verhandelt wird in satirisch-philosophischen Dialogen die grosse Frage nach dem Sinn des Lebens. Es geht um die Unvermeidlichkeit des Leids, die Kritik am Fortschrittsglauben und um die Entfremdung des Menschen. Das Buch sei «abgründig und doch witzig», sagt Crivelli. Und erst noch «in einem wunderbaren Stil geschrieben».
2. Luigi Priandello: «Novellen für ein Jahr»
Sechs Mal ging der Literaturnobelpreis bisher nach Italien, 1934 an Luigi Pirandello. Seinen Weltruhm verdankt der Sizilianer seinen Theaterstücken. Er sei jedoch auch «ein begnadeter Autor von kurzen Erzählungen» gewesen, sagt Tatiana Crivelli.
Das zeige sich in den knapp 250 kurzen «Novellen für ein Jahr», in denen Pirandello «auf engem Raum und mit messerscharfer Ironie zeitlos universelle Themen abhandelt». Etwa «die Frage, was Wahrheit ist». Oder «welche Masken wir uns in bestimmten gesellschaftlichen Rollen» aufsetzen.
3. Italo Calvino: «Die unsichtbaren Städte»
Das 1972 erschienene Buch sei «ausserordentlich», weil es unterschiedliche Textsorten versammle und sich «gegen jede Gattungsbezeichnung sperrt». Protagonist ist der Asien-Reisende Marco Polo. Calvino lässt ihn zu einer Reise durch fantastische Städte aufbrechen. Sie stehen für Sehnsüchte, Ängste und Grundfragen der menschlichen Existenz.
Je länger die Reise dauert, desto mehr verdichtet sich das Bild einer vom Untergang bedrohten Welt. «Das Buch lässt uns immer wieder an unsere Welt denken», sagt Crivelli, etwa an «unsere Wegwerfgesellschaft oder an die Bedrohung durch den Klimawandel.»
4. Elsa Morante: «La Storia»
«La Storia» sei «ein grosser Roman», erklärt Tatiana Crivelli. Nicht nur wegen seines mit über 750 Seiten beträchtlichen Umfangs, sondern auch «weil er an eindringlich gezeichneten Figuren die Zeit des Zweiten Weltkriegs aus Sicht der ‘kleinen Leute’ fassbar» mache.
Der zur Buchmesse hin neu übersetzte Klassiker aus den 1970er-Jahren schildert Armut und Hunger, ideologische Verblendung, Deportation und Antisemitismus. Laut Tatiana Crivelli benennt der Roman «schonungslos das damalige Unrecht». Und er halte die Erinnerung wach, was heute «in Zeiten des zunehmenden Rechtspopulismus in Italien und anderswo von grosser Wichtigkeit» sei.
5. Michela Murgia: «Accabadora»
«Hoch aktuell» sei schliesslich auch das 2009 erschienene Romandebüt «Accabadora» der kürzlich verstorbenen sardischen Autorin Michela Murgia, findet Tatiana Crivelli. Das Buch setze sich «ohne Tabus mit dringlichen gesellschaftlichen Fragen» auseinander. Im Zentrum der Handlung steht ein Adoptivkind.
Davon ausgehend wirft Murgia die Frage auf, was eigentlich Familie ist. Was macht Mutterschaft aus? Auch sind ethische Fragen rund um die Sterbehilfe ein Thema. Micheal Murgias Roman ist laut Tatiana Crivelli «voller Poesie» und «ein wertvoller Beitrag zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten».