«Einige Leute halten Fussball für einen Kampf um Leben und Tod», sagte der legendäre Liverpool-Trainer Bill Shankly einmal. «Die Einstellung gefällt mir nicht. Ich versichere ihnen, dass es um viel mehr geht.»
Mit zehn Jahren hörte Campino diese Worte zum ersten Mal. Heute findet sich das Zitat auf dem Buchumschlag von «Hope Street». Ein Buch über Fussball – und über ihn selbst.
Mehr als eine Schwärmerei
Die Liebe zum FC Liverpool ist für Campino von Anfang an mehr als nur eine Schwärmerei: Die Beschäftigung mit Liverpool ist auch eine Beschäftigung mit seiner eigenen Herkunft.
Campinos Mutter kommt aus England. Kurz nach dem Krieg war sie der Liebe nach Deutschland gefolgt und kämpfte oft gegen das Heimweh. Die Beziehung zur englischen Seite ist eng: Ferien in Cornwall, Besuche bei der Tante in den Midlands, die Cousins in Chislehurst.
Campino – er hiess damals noch Andreas Frege – war zehn Jahre alt, als ihn die beiden Cousins in Chislehurst in die Zauberwelt des Fussballs einführten. In ihrem Kinderzimmer entdeckte er seine Liebe zum FC Liverpool.
Zu einer zeitweiligen Trennung kam es nur einmal, es war nach den traurigen Ereignissen beim Europa-Cup-Final im Mai 1985 in Brüssel. Wegen einer Randale auf den Rängen verloren 39 Fans ihr Leben. Campino wollte vom «Fussball erstmal nichts mehr wissen.» Die Abstinenz hielt nicht lange an.
Die Privilegien eines Punkrockers
Mit der Punk-Bewegung wurde Campinos Beziehung zur englischen Seite noch stärker. Und mit dem Geld, das die Toten Hosen mit ihren Punk-Liedern verdienten, wurde sie enger denn je.
Nun konnte sich Campino Dinge leisten, von denen die meisten Fussballfans nur träumten. Er konnte jeden Match besuchen, egal, wo er stattfand. Und auch das noch: Liverpool-Trainer Jürgen Klopp wollte sein Freund sein.
Ob ein Heimspiel an der Anfield Road oder den Club-WM-Final gegen Flamengo Rio de Janeiro in Doha, fast jedes Spiel verfolgte Campino live im Stadion – oder wenigstens am Fernsehen.
Einmal erlebte er vor Ort, wie der Hosen-Schlager «Lass los und komm in meine Arme …!» aus den Stadion-Lautsprechern dröhnte. «Unfassbar!», schreibt er in seinen Memoiren.
Facetime mit Trainer Klopp
Der Sänger der Toten Hosen feierte die sportlichen Erfolge des Fussballklubs genauso wie seine musikalischen Triumphe. Keiner dürfte ihm mehr Freude bereitet haben als die Premier League-Saison 2019/2020. Mit euphorisierendem Tempofussball erspielten sich seine «Reds», wie der FC Liverpool auch genannt wird, zum ersten Mal seit 1990 den Meistertitel.
Eine Saison voller Erinnerungen: Am 29. Dezember ging der letzte Match von 2019 über die Bühne. Campino erholte sich gerade in den Skiferien in Lech. Das Handy holte ihn aus den Federn: Reds-Trainer Jürgen Klopp und sein Sohn Dennis meldeten sich per Facetime.
Die beiden Klopps tanzten in der Küche herum und streckten zwei Mal fünf Finger in die Luft: Mit dem Sieg gegen Wolverhampton stand Liverpool bei fantastischen 55 Punkten. Schlafen konnte Campino danach nicht mehr.
Ein Buch über Fussball – und viel mehr
«Hope Street» (benannt nach der Strasse in Liverpool, welche die beiden dortigen Kathedralen verbindet) ist das feinste Fussballbuch, das der Schreiber dieser Zeilen gelesen hat. Campino versteht es, keinen Hehl aus seiner privilegierten Situation zu machen, dabei aber scharfsinnig, bescheiden und witzig zu bleiben.
Er kombiniert seine anglo-germanische Familiengeschichte mit der Geschichte seiner Fussballliebe, ohne sentimental zu werden. Und zwischen den Zeilen erklärt er so vieles, das noch kaum jemand so schön erklärt hat.