Der Notizzettel ist unser ausgelagertes Gehirn. Was auf Papier geschrieben ist, braucht keinen Speicherplatz mehr im Kopf. Wir notieren also Dinge, um sie zu vergessen. Möchte ich mich an etwas erinnern, führt das Notieren nur dazu, dass ich mich erinnern muss, wo ich es aufgeschrieben habe.
Notiert wurde schon immer – denken wir an Wandmalereien oder beschriftete Tonscherben, sagt Medienwissenschaftler Hektor Haarkötter. Er hat eine Kulturgeschichte des Notizzettels verfasst. «Das Notieren ist eine anthropologische Konstante. Der Mensch tut das nicht, um sich an etwas zu erinnern, sondern um seine Gedanken zu externalisieren.»
Schon Leonardo da Vinci verlor Post-its
Wie schnell Post-its verloren gehen, ist wohl bekannt. Das wusste schon Leonardo da Vinci, sagt Haarkötter. Von da Vinci gibt es eine kleine Notiz: «Lieber Leser, wenn Du in der Zukunft zufällig dieses Blatt in die Hand bekommst, dann sieh mir bitte nach, dass ich Dinge mehrmals aufgeschrieben habe. Aber bei der grossen Masse an Notizzettel, die ich hier liegen habe, kann ich unmöglich den Überblick behalten. Deswegen schreibe ich es lieber mehrmals auf.»
Während da Vinci nur fünfzehn Gemälde malte, hat er mehr als 10'000 Notizzettel hinterlassen. Auch wenn er vom Buchdruck wusste, hat er nie publiziert. Er hat sich wohl in seinen Notizen verzettelt.
Der Zettel, auf dem Kreativität Raum findet
Der Notizzettel ist ein Medium der Unordnung. Völlig Unzusammenhängendes kann auf einem Zettel zusammentreffen. Dieser bietet Raum für Kreativität. Er hilft dem Denken auf die Sprünge, ermöglicht komplexe Gedanken zu entwickeln.
Die Geschichte des Notizzettels beginnt 1452, so Haarkötter. «Leonardo da Vinci wurde in dem Jahr geboren, in dem Johannes Gutenberg zum ersten Mal ein Buch mit beweglichen Lettern gedruckt hat.» Erst als ein Druckmedium erschaffen worden war, könne man einen Unterschied zwischen dem machen, was handgeschrieben und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist und dem, was gedruckt wird und damit für ein grosses Publikum bestimmt ist.
Nach Gutenberg zu schreiben hiess: für sich selbst zu schreiben, also zu notieren, oder für andere zu schreiben und es drucken zu lassen. Eine Eigenschaft des Notizzettels ist also, dass er privat ist. Was auf dem Zettel steht, sieht zwar aus wie eine Mitteilung, will aber niemandem etwas mitteilen. Da Vinci hat seine Notizzettel sogar in Geheimschrift verfasst.
Weshalb der Laptop keine Konkurrenz ist
Und heute im digitalen Zeitalter? Obwohl wir alle Notebooks haben, kleben trotzdem überall Post-its. «Der Notizzettel ist das private Medium par excellence und schon deswegen wird er niemals von einem digitalen Gerät abgelöst werden», sagt Haarkötter. Was wir digital in Netzwerken speichern, sei unserer Privatsphäre entzogen.
Zudem habe das Notizbuch enorme Vorteile in der «Usability». «Ich kann ein Notizbuch mit in die Badewanne nehmen. Das würde ich mit meinem Laptop nicht tun», so Haarkötter. Der Notizzettel oder das Notizbuch ist deshalb das Universalmedium unserer Zeit.
Haarkötters umfangreiches Werk liefert dazu die Theorie sowie eine Schrift- und Denkgeschichte quer durch alle Epochen und Kunstgattungen. Dabei lässt sich eine Reihe berühmter Geistesgrössen neu entdecken, aber auch Zettel von Bauern der frühen Neuzeit finden Erwähnung. Mit dem Buch gelingt ihm der Spagat zwischen einer wissenschaftlichen Untersuchung und einer Sammlung von Anekdoten und Geschichten, die zum Nachdenken und noch mehr zum Staunen und Lachen anregen.