In ihrem Roman «Geschichte eines Kindes» verwendet Anna Kim einen originalen Text: Die Akte eines Säuglings namens Danny, der Anfang der 1950er-Jahre in einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA nach anthropologischen Ansätzen vermessen wurde, die noch aus der Nazizeit stammten.
Die österreichische Autorin mit asiatischen Wurzeln verknüpft diesen historischen Text mit der Gegenwart und mit ihren eigenen Erfahrungen.
SRF: Wie sind Sie auf Dannys Akte gestossen?
Anna Kim: Mein Mann kommt aus dieser Kleinstadt und bekam die Akte von Danny selbst. Er gab sie an mich weiter, weil ich schon einige Bücher schrieb, die auf wahren Begebenheiten beruhen.
Danny wurde von seiner jungen Mutter zur Adoption freigegeben, über den Vater schweigt sie eisern. Als immer offensichtlicher wird, dass das Kind nicht weiss ist, gerät es in eine bizarre Mühle der Begutachtung. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die originale Akte erstmals lasen?
Einerseits war ich sehr schockiert, denn das Vokabular der Akte ist extrem rassistisch. Andererseits, und das war vielleicht der Auslöser dafür, dass ich diesen Roman überhaupt schreiben wollte, hat mich die Art und Weise, wie der Säugling beschrieben wird, an meine Kindheit erinnert. Ich habe südkoreanische Wurzeln, und Beschreibungen meines Aussehens begleiten mich schon ein Leben lang.
Von Geburt an wurde über Danny verfügt, war er ein Objekt.
Auch sprachlich fand ich die Akte hochinteressant. Das rassistische Vokabular von damals existiert heute nicht mehr. Der Rassismus selbst ist in ähnlicher Intensität aber immer noch vorhanden. Wir drücken ihn nur anders aus, verstecken ihn, sagen zum Beispiel «Kultur» statt «Rasse». Rassismus sprachlich so offengelegt zu lesen, hat mich auch fasziniert.
Es fällt auf, dass Ihr Roman voller Ambivalenzen ist. Keine Figur in «Geschichte eines Kindes» ist ohne Widersprüche.
Das stimmt, und gilt insbesondere für die Mütter im Roman. Dannys Mutter zum Beispiel wirkt in der Art, wie sie sich wehrt, den Namen des Vaters zu nennen oder sich um ihr Kind zu kümmern, sehr unsympathisch.
Aber sie ist ja noch sehr jung, sie weiss, dass sie unter den gesellschaftlichen Umständen, in denen teils noch Rassentrennung herrschte, ihr Kind nicht behalten kann. Wenn man genauer hinschaut, macht sie also eigentlich etwas Vernünftiges: Sie versucht, keine Verbindung aufzubauen.
Dieses Verbindungslose prägt Ihren Roman: Beziehungen sind durchwegs schwierig. Man redet über- statt miteinander. Und Danny redet gar nicht. Warum?
Ich wollte, dass er nicht greifbar wird. Er sollte den ganzen Roman über eine Art Gespenst bleiben. Von Geburt an wurde über ihn verfügt, war er ein Objekt. Das ist für mich das deutlichste Zeichen für Ausgrenzung. Das wollte ich nicht nur inhaltlich, sondern auch literarisch zeigen. Deshalb kommt Danny selbst nie zu Wort.
«Geschichte eines Kindes» erzählt vom Schaden, den Rassismus im Leben eines Menschen anrichten kann. Aber würde sich Danny selbst als Opfer sehen, wenn er denn spräche?
Ich weiss es nicht. Ich habe die Form und den Aufbau der Akte, dieses Ausmessen des Säuglings, das letztlich ins Leere führt, als Vorlage für die Rahmenerzählung genommen. Auch diese führt ins Leere. Es gibt keine Auflösungen.
Ich kann mich erinnern, wie sehr ich mir beim Lesen der originalen Akte alles Mögliche vorstellte. Ich habe in alle Richtungen überlegt und nachgedacht. Das sollen auch die Leserinnen und Leser tun können.
Das Gespräch führte Franziska Hirsbrunner.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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