Die französisch-marokkanische Schriftstellerin und Journalistin Leïla Slimani wuchs in Marokko auf. Ihre Sehnsucht nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben brachte sie mit 17 Jahren nach Paris.
In einem Gespräch erzählt die preisgekrönte Schriftstellerin von ihrem Vorbild, woher die Liebe zum Schreiben stammt und wieso sie die Bitte von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Kulturministerin zu werden, abgelehnt hat.
SRF: Leïla Slimani, 2017 wollte Sie der französische Präsident Emmanuel Macron zur Kulturministerin ernennen. Sie haben abgelehnt. Wieso?
Leïla Slimani: Weil ich keine Lust hatte. Und ich fühlte mich auch nicht kompetent genug. Man sollte sich auf das konzentrieren, worin man wirklich gut ist.
Wirklich gut sind Sie ja zum Beispiel als Schriftstellerin, wo Sie unter anderem mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, ausgezeichnet wurden. Woher kommt Ihre Liebe zum Schreiben?
Ich bin in Marokko aufgewachsen, wo einem leider schon in jungen Jahren beigebracht wird, dass man lügen muss, um zu überleben. Man darf nicht sagen, mit wem man was macht, schon gar nicht, wenn man nicht der sozialen Norm entspricht, beispielsweise homosexuell ist.
Dies hat vielleicht meine Vorstellungskraft angeregt. Meine Welt ist nicht die der Lüge, sondern der Fiktion, in der ich mir eine andere Realität ausdenken kann.
Wer schreibt, muss frech sein, auch wenn dies anderen nicht gefällt.
Sie raten auch dazu, die Erwartungen der Gesellschaft bewusst zu brechen und «den Engel in sich zu töten».
Unbedingt. Ich habe dieses Bild von Virginia Woolf entlehnt. Sie sagt, dass man keine Schriftstellerin sein kann, ohne diesen Engel zu töten, dieses liebenswerte Wesen, das allen gefallen will. Wer schreibt, muss frech sein, auch wenn dies anderen nicht gefällt.
Ganz allgemein werden Frauen von sich entfremdet, weil sie ständig hören, dass nichts wichtiger ist, als von anderen geliebt zu werden. Wir sollten uns aber mit dem Gedanken anfreunden, die Erwartungen anderer auch mal zu enttäuschen. Nur so gestalten wir unser Leben als freie Person.
Wann fühlen Sie sich denn frei?
Beim Schreiben. Dann gibt es absolut nichts, was mich einschränkt. Ich kann durch Zeit und Raum reisen und Dinge sagen, die sich im wirklichen Leben nie sagen liessen.
Sie sagen auch: Man kann nicht frei sein, ohne allein zu sein.
Ja, ich denke, man muss sich in gewisser Weise mit der Einsamkeit arrangieren. Sie gehört zum Menschsein. Wir sind und sterben allein, und es gibt einen Teil von uns, den andere nie erreichen können.
Das ist das Schöne an anderen Menschen: Sie sind anders als wir. Egal, wie sehr man versucht, sie aus der Tiefe seines Herzens zu erfassen und Empathie für sie zu empfinden, man kann sie nie vollständig verstehen.
Es ist ein Grundrecht, Geheimnisse zu haben und nicht alles von sich preiszugeben.
Das tönt beinahe, als ob Sie dies als tröstend empfinden.
Zu akzeptieren, dass man nicht alles verstehen kann, ist das Schöne an menschlichen Beziehungen und sogar in der Liebe. Andere zu lieben, bedeutet nicht, sie zu durchleuchten und zu wissen, was in ihrem Kopf vorgeht. Es ist ein Grundrecht, Geheimnisse zu haben und nicht alles von sich preiszugeben.
An anderen Menschen interessiert mich ihr Geheimnis.
Auch im Politischen. Alle faschistischen Regime fordern die totale Transparenz. Wo warst du und wen hast du getroffen? Diese Fragen werden insbesondere Frauen oft gestellt. Ich finde es wichtig, sich ihnen zu verweigern.
Aber ist für Sie Transparenz nicht auch ein Grundwert unserer Zeit?
Doch. Aber ein Wert, der manchmal zu weit ausgelegt wird. Es ist wichtig, von unseren Politikerinnen und Politikern Transparenz zu verlangen und darauf zu bestehen, dass ein Staat sein Handeln offenlegen muss. Aber heisst das auch, dass wir unbedingt wissen müssen, wie Menschen ihre Sexualität leben und was sie gefrühstückt haben?
All das interessiert mich nicht. Ich denke, der Trend, sein ganzes Leben auszubreiten, hat uns auf Abwege geführt. Das ist es, was ich an den Social Media nicht mag. An anderen Menschen interessiert mich ihr Geheimnis.
Die Fragen stellte Yves Bossart. (Das Interview ist die gekürzte Fassung eines längeren Gespräch, das im Rahmen der «Sternstunde Philosophie» geführt wurde.)