Fleur Jaeggys Kurzprosa wird auf der ganzen Welt gelesen. Ihre Bücher, die sie alle auf Italienisch geschrieben hat, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und regelmässig in der «New York Times» besprochen. In Italien, wo die Autorin seit langem lebt, wurde sie mit zahlreichen Preisen geehrt.
In der Schweiz hingegen blieb der Erfolg lange aus. Nur vereinzelt wurden Jaeggys Bücher ins Deutsche übersetzt. Manche davon blieben jahrelang vergriffen und die Autorin wurde zu einer vergessenen Stimme in der Schweizer Literatur.
Bis im letzten Jahr eine grosse Wiederentdeckung startete, als Suhrkamp damit begonnen hat, Jaeggys Werk auf Deutsch neu herauszugeben. Im Herbst 2024 wurde die Autorin mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet, nun also mit dem Schweizer Grand Prix Literatur.
Kein Raum für Trost
Der mit 40'000 Franken dotierte Preis des Bundesamtes für Kultur ist die höchste Auszeichnung, die ein Autor oder eine Autorin aus der Schweiz für das Gesamtwerk bekommen kann. In der Laudatio schreibt der Bund, es gelinge Fleur Jaeggy «Emotionen und psychische Leiden stets kontrolliert und unbeirrt auszudrücken». Ihre Texte lassen «keinen Raum für Trost», sie «gehen tief und sind nie sentimental.»
Bestes Beispiel dafür ist die Novelle «Die seligen Jahre der Züchtigung» von 1998. Es sind die beklemmenden Erinnerungen an ein Appenzeller Mädcheninternat voller Wohlstandsverwahrlosung, fiebriger Erotik und Ordnungsbesessenheit.
Der Text beunruhigt mit einfachen Sätzen: «Ich verstand die Kinder, die sich aus dem obersten Stock eines Internats stürzen, nur um einmal etwas Unordentliches zu tun.»
Modeln und Schreiben
Jaeggys Erzählung ist geprägt von eigenen Erfahrungen. Die Tochter eines Schweizers und einer Italienerin kam 1940 in Zürich zur Welt und verbrachte die ganze Schulzeit in Schweizer Internaten.
Als junge Frau arbeitete Fleur Jaeggy als Model in Rom. Dort freundete sie sich mit der renommierten österreichischen Autorin Ingeborg Bachmann an, die Jaeggy zum Schreiben ermutigte. So entstand ab 1968 ein überschaubares Werk, das es in sich hat.
Kurze Lektüre, lebenslange Erinnerung
Jaeggy schreibt von Einsamkeit, verzweifeltem Begehren und gestörten Familienbeziehungen. Ihre Kurzgeschichte «Ohne Schicksal» handelt von einer Mutter, die ihr Kind hasst. In der Erzählung «Ich bin der Bruder von XX» erklärt die achtjährige Hauptfigur ihrer Grossmutter: «Wenn ich gross bin, will ich sterben.»
Es ist das stille, bisweilen skurrile Grauen, das Jaeggys Texte auszeichnet. Das liest sich einnehmend wie ein Thriller. Vor allem wegen der verknappten, skalpellscharfen Sprache.
Über Fleur Jaeggys verdichtete Geschichten sagte der Literatur-Nobelpreisträger Joseph Brodsky: «Die Lektüre dauert kaum länger als vier Stunden, die Erinnerung daran aber ein ganzes Leben.»
Von der Schweiz geprägt
Seit fast 60 Jahren lebt Fleur Jaeggy in Mailand. Die Schweiz hat in ihr Werk aber immer wieder Eingang gefunden: in Form eines Gefühls der Einengung, aber auch durch konkrete Erinnerungen, etwa an das Zürcher Sechseläuten im Roman «Proleterka». Dass Fleur Jaeggy in der Schweiz so lange so wenig Beachtung fand, ist umso erstaunlicher.
Der Schweizer Grand Prix Literatur ist darum nicht nur eine hochverdiente Auszeichnung an eine aussergewöhnliche Autorin, sondern auch eine Einladung, ein faszinierendes Werk zu entdecken.