Kajaani, ein Dorf im ostfinnischen Nirgendwo im frühen 19. Jahrhundert: Es ist Winter, auch tagsüber herrscht tiefe Dunkelheit. Die Kälte klirrt, Wege und Felder liegen unter hohen Schneewehen.
Ville Rantas schwarzweisse Zeichnungen lassen die eisige Stimmung spüren. Sein Strich ist schroff, rau und verdichtet die kahlen Winterlandschaften zu einer geradezu klaustrophobischen Kulisse.
Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs
In dieser Einöde ringt ein gewisser Elias Lönnrot – idealistischer Landarzt, Philologe und Sammler volkstümlicher Lieder – mit seinen Dämonen: Er hat ein Verhältnis mit der Frau seines Anwalts, er hat Schulden, er fühlt sich verantwortlich für seinen alkoholkranken Bruder und kümmert sich um seine ständig nörgelnden Eltern.
Manchmal bricht Lönnrot aus und besäuft sich mit Freunden und Gläubigern. Oder er reist nach Ostkarelien und ins finnische Russland. Dort schreibt er die Gedichte und Lieder auf, die ihm die alten Menschen vorsingen.
Finnisches Nationalepos
Elias Lönnrot, der Protagonist aus Ville Rantas Graphic Novel «Kajaani. Der Verbannte der Kalevala» ist kein fiktionaler Charakter, sondern eine Schlüsselfigur der finnischen Kultur.
Elias Lönnrot (1802-1884) war ein Aufklärer, der viel für das finnische Gesundheitswesen bewirkt hat. Vor allem hat er Finnland sein Nationalepos gegeben: Die in jahrelanger Forschungsarbeit zusammengetragenen Lieder verknüpfte er zum «Kalevala».
«Kajaani» ist keine Lönnrot-Biografie. Selbst das Kalevala erwähnt Ville Ranta nur am Rand. Dafür zeichnet er das Porträt eines Manns in einer Sackgasse.
Eine Lebenskrise in schnellen Strichen
Lönnrot fühlt sich für alles und alle verantwortlich, er stellt hohe moralische Ansprüche an sich selbst, die er, weil er immer wieder unmoralisch handelt, nicht einlösen kann. Er setzt sich einem immensen Druck aus, an dem er schliesslich zerbricht.
Ranta schildert diese Lebenskrise auf eindringliche Weise. Sein Strich ist schnell, skizzenhaft. Auch wenn «Kajaani. Der Verbannte der Kalevala» sehr durchdacht und sorgfältig geschrieben ist, wirkt die Geschichte dank der Zeichnungen spontan hingeworfen, unmittelbar, sehr lebendig und auch voll schwarzem Humor.
Isolation und Kontrollverlust
Ob einem Elias Lönnrot ein Begriff ist oder nicht, ob man ihn für eine reale oder eine imaginäre Figur hält, spielt letztlich keine Rolle. «Kajaani» ist eine universale Geschichte über Existenzängste, Kontrollverlust und Isolation.
Und doch ist der Realitätsbezug ein Gewinn für «Kajaani». Ranta vermittelt beiläufig einiges über das karge Leben im ländlichen Finnland des 19. Jahrhunderts. Ausserdem spiegelt sich in Lönnrot das erwachende Bewusstsein einer finnischen Identität, die zum Aufbruch in die Moderne und die Unabhängigkeit führte.
Auch für Lönnrot endet «Kajaani» mit einer positiven Note: Kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch zieht er nach Helsinki. Dort wird er sich endlich an die Niederschrift seines Lebenswerks machen, des Kalevala.