Alle Eishallen sehen gleich aus. Und alle Garderoben riechen gleich, nach Eishockeyschweiss und künstlicher Kälte. Das sagt sich Tillie Walden, als sie ihre Schlittschuhe schnürt und auf das Eisfeld stakst. Freiwillig, glaubt sie, zu ihrem Vergnügen.
Doch ihr wird bald bewusst: Eislaufen kann für sie kein unbeschwerter Spass sein – nicht nach all dem, was sie auf dem Eis durchgemacht hat.
Jeden Morgen schrillte der Wecker um vier Uhr. Einzeltraining vor der Schule, Synchrontraining in der Gruppe nach der Schule. An den Wochenenden Wettkämpfe. Tillie Walden verbrachte 12 Jahre auf dem Eis, von 5 bis 17.
Gezeichnet in kühlem Dunkelviolett
Diese langen Jahre in eisigen Hallen reflektiert die junge Amerikanerin auf unaufgeregte Weise – abgeklärt und ohne Schuldzuweisungen. Die Zeichnungen sind einfach, stilisiert und mit einem kühlen Dunkelviolett unterlegt, durch das dann und wann ein warmer Gelbton glüht.
Tillie Walden gilt als eines der grössten Talente der amerikanischen Comic-Szene. Die erst 22-jährige Autorin und Zeichnerin hatte bereits mehrere vielversprechende Graphic Novels veröffentlicht. Für ihre 400 Seiten starke Autobiografie wurde sie mit dem wichtigsten amerikanischen Comic-Preis ausgezeichnet, dem Eisner-Award. Zu Recht.
Immer nur lächeln
Tillie Walden hat ihren Roman angelegt wie eine Pirouette, wie eine Spirale, die sich stilsicher, ehrlich und behutsam in die Tiefe gräbt und immer tiefere Schichten ihres Aufwachsens auf dem Eis freilegt.
Der gnadenlos durchgetaktete Alltag, der Konkurrenzdruck, mehr Zickenkriege als echte Freundschaften. Trainerinnen, die wichtiger sind als die Eltern. Tausendfach wiederholte Figuren und Muster.
Und immer soll sie den Erwartungen der anderen entsprechen – auf dem Eis, in der Schule, zuhause. Immer lächeln, lächeln, lächeln – ihr Gesicht bedeckt von einer dicken Schicht Schminke, die Kleider zu dünn für die Eiseskälte.
Keine Zeit für Freunde und Liebe
Mehr als eine Geschichte über das Eiskunstlaufen ist «Pirouetten» indes eine Geschichte über das Aussenseitertum. Zeit für echte Freundschaften hat Tillie keine. Zeit für Hausaufgaben zu wenig.
Ausserdem weiss sie schon früh, dass sie lesbisch ist. Sie weiss aber auch, dass sie ihre sexuelle Orientierung in der Welt der Eisprinzessinnen verheimlichen muss. Ihre erste Liebe endet ernüchternd: Die zwei Mädchen haben zu wenig Zeit – und schliesslich unterbinden die Eltern ihre Beziehung.
Ausbrechen aus der Eislauf-Routine
Je älter Tillie wird, desto schmächtiger zeichnet sie sich. Ihre Augen sind verborgen hinter einer grossen Brille, der Mund ein freudloser Strich. Mittlerweile hasst sie das Eiskunstlaufen mehr, als sie es liebt.
Die meisten anderen Mädchen sind ihr gleichgültig. Und längst weiss sie, dass es für mehr als «Disney on Ice» und vergleichbare Shows nicht reichen wird. Und doch klammert sie sich an die Routine, als gäbe es nichts Anderes.
Der Moment jedoch, mit 17, in dem ihre sexuellen Gefühle zu stark werden, löst ihre Emanzipation aus. Ihre Homosexualität braucht Raum und Offenheit, und Tillie befreit sich aus der eisigen Umklammerung der Eislauf-Routine.
Die Beiläufigkeit, vor allem aber die Subtilität und Behutsamkeit, mit der die erst 22-jährige Tillie Walden dieses Erwachen reflektiert und aufzeichnet, ist beeindruckend und macht aus «Pirouetten» eine universale Geschichte, die leise, aber lange nachhallt.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 26.10.2018, 17:20 Uhr