Als Erstes fallen die Zeichnungen auf: Mit vielen Bleistift- und Kugelschreiberstrichen schafft Emil Ferris ausdrucksstarke und leidenschaftliche Bilder. Sie changieren zwischen bewegten Gemälden und steifen Kinderkritzeleien, zwischen realistischer Räumlichkeit und abstrahierender Stilisierung. «Am liebsten mag ich Monster» ist durchsetzt mit zahlreichen Referenzen an die Kunstgeschichte und an Horror-Comics.
Nicht weniger dicht und vielschichtig ist die Geschichte der amerikanischen Autorin. «Am liebsten mag ich Monster» heisst ihre Graphic Novel. Es ist das fiktionale Tagebuch der zehnjährigen Karen Reyes aus Chicago und spielt sich ab vor dem Hintergrund der gesellschaftlich bewegten späten 1960er-Jahre.
Nichts liebt Karen mehr als Monster. Sehnlichst hofft sie auf eine Begegnung mit einem Werwolf, um dank seines Bisses selber einer zu werden. Bis es soweit ist, zeichnet sie sich selber schon mal als Ungeheuer mit mächtigen Beissern.
Magische Realität
Ihr Tagebuch setzt mit dem Tod ihrer wunderschönen, aber geheimnisvollen Nachbarin Anka Silverberg ein. Karen glaubt nicht an die Selbstmordtheorie der Polizei und macht sich an die Lösung des Todesfalls.
Dabei gerät die Amateur-Detektivin in eine komplexe Geschichte, die ein zehnjähriges Mädchen unmöglich bewältigen kann. Denn Ankas Leben reicht weit zurück – ins Berlin der 1930er-Jahre, wo sie als minderjährige Prostituierte ausgenutzt und später ins KZ geschickt wurde.
In diesen detektivischen Mystery-Plot weben sich andere Ereignisse und Erfahrungen ein: die politischen Wirren nach dem Anschlag auf Martin Luther King, die tödliche Krankheit von Karens alleinerziehender Mutter und die innige Beziehung zu ihrem Bruder, dem Künstler und Frauenschwarm Deeze.
Auch Karens Aufwachsen als Aussenseiterin mit einer Vorliebe für Mädchen und ihre Leidenschaft für Mythologie, grosse Kunst und trashigen Horror werden thematisiert.
Dabei verschmilzt Emil Ferris Politisches, Gesellschaftliches, Privates und Kulturelles auf eine überraschende und überzeugende Weise zu einer Form von magischer Realität. In dieser umkreist sie grosse Themen wie Tod, Sexualität, Verlust, Gewalt und Kunst.
Schulheft mit Spiralbindung
Gezeichnet hat Emil Ferris die Geschichte in linierte Schulhefte mit Spiralbindung – das suggeriert jedenfalls die Buchgestaltung. Sie vermischt Comic-Sequenzen mit Textpassagen und Illustrationen, arbeitet mit kühnen Layouts und Bildmontagen und schafft damit einen Sog, der die Leser immer tiefer ins dunkle Herz dieser Geschichte zieht.
Dabei mündet jede Antwort, die Karen findet, in einem noch grösseren Rätsel. Doch Karen gibt nicht auf. Auch wenn sie immer weniger versteht.
Spätes, grosses Debüt
«Am liebsten mag ich Monster» ist die erste Graphic Novel der 56-jährigen Emil Ferris – und sorgte für Aufsehen. Ferris sei eine der wichtigsten Comic-Künstlerinnen unserer Zeit, urteilte etwa Art Spiegelman, der berühmte US-amerikanische amerikanischer Cartoonist und Comic-Autor.
Damit ist er nicht allein. Die Presse, aber auch andere Comic-Grössen wie Alison Bechdel und Chris Ware feiern Ferris‘ Graphic Novel als das bedeutendste Debüt des Jahres.
Schon lange hat keine Graphic Novel in den USA eine so grosse Begeisterung ausgelöst. Diese schwappt nun auf Europa über.
Zu Recht: Denn Emil Ferris’ «Am liebsten mag ich Monster» ist tatsächlich ein Monster. Ein fulminantes Debüt, ein echter Geniestreich, der sich nicht in eine Kategorie zwängen lässt. Und das Beste ist: Es ist erst der erste Band. Der zweite folgt in Kürze.