«Er hat Vorschläge gemacht. Wir haben sie angenommen». Dieses berühmte Zitat des Dramatikers Bertolt Brechts, das er für seinen Grabstein vorgesehen hat, kommt einem sofort in den Sinn, wenn man diese Interviews liest.
Das Interview als Bühne
Brecht macht Vorschläge, behandelt das Interview also wie das Theater, das für ihn eine Institution des Denkens ist. Man sitzt im Zuschauerraum, sieht sich eine Situation auf der Bühne an und vergleicht sie mit der Realität oder seinen gesellschaftlichen Wunschvorstellungen. Ein soziales Laboratorium, wie ein Brecht-Mitarbeiter es einst nannte.
Brecht ist radikal und eloquent. Auch in den Interviews. Seine Sätze wirken wie in Stein gemeisselt, wie in den Stücken und Gedichten. Immer geht es darum, etwas an den Mann zu bringen. Die Theatertheorie. Die politische Haltung. Sich selbst.
Verfolgt Brecht anfänglich noch das Ziel, sein episches Theater bekannt zu machen, geht es ihm nach der «Dreigroschenoper» um den Marxismus. Später um sein künstlerisches Überleben im Exil. Noch später um das eigene Theater in Ost-Berlin.
Begnadeter Selbstdarsteller
Interessant auch die medienhistorische Bedeutung der Sammlung: Das Interview als Form ist zu Beginn von Brechts Karriere in den 1920er-Jahren noch neu und gilt nicht als journalistisch. Als begabter Selbstdarsteller stürzt sich Brecht auf die Form und nutzt sie für seine Zwecke.
Auch kann man das, was damals veröffentlicht wird, nicht wirklich Interview nennen. Es handelt sich nicht um Dialoge mit Fragen und Antworten, sondern um reportagenähnliche Texte. Dabei wird meist zuerst die Wohnung des Interviewten beschrieben, dann die Kleidung, dann Gesicht und die Stimme.
Bei Brecht ist das höchst aufschlussreich, kann man doch mitverfolgen, wie bewusst und konsequent er mit seinem Image umgeht. Erst erscheint er als Dandy mit Ledermantel, Zigarre und Kurzhaarfrisur, ab den 1930er-Jahren als Arbeitermönch mit Kutte und Schiebermütze. So beschreibt es etwa der junge Marcel Reich-Ranicki in einer polnischen Literaturzeitung zu Beginn der 1950er-Jahre.
Ein Student als Stöberer
Hinter dieser ersten und mit 91 Interviews vermutlich beinahe kompletten Sammlung steht der junge Brecht-Forscher Noah Willumsen. Als Student an der University of Pittsburgh liest er zum ersten Mal Brechts Texte.
Fasziniert vor allem von den «Keuner-Geschichten» kommt er nach Deutschland und beginnt, sich intensiver mit Brecht zu beschäftigen. Im Zusammenhang mit einer medienwissenschaftlichen Arbeit zu Heiner Müller stösst er auf ein erstes, vergessenes Brecht-Interview und beginnt, weitere zu suchen.
Biografie aus Momentaufnahmen
Nachdem er 30 Stück zusammen hat, gewinnt er den Suhrkamp-Verlag als Partner, der an ein schmales Bändchen denkt. Doch bald kommen Einführungen zu den Interviews dazu und Hunderte von Fussnoten, die beschreiben, was aus einer von Brecht im Interview gerade formulierten Idee tatsächlich geworden ist. So entsteht eine Biografie aus 91 Momentaufnahmen. Ein einzigartiges Werk von 750 Seiten.
Fünf Jahre hat Willumsen daran gearbeitet. Die meiste Zeit davon im Brecht-Archiv in Brechts letztem Wohnhaus an der Chausseestrasse in Berlin. Das ist gleich neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wo Brecht begraben liegt.
Auf dem Grabstein steht allerdings nichts von Vorschlägen. Dort steht in bester brechtscher Manier ganz einfach: Bertolt Brecht.