Im Zentrum des Romans steht die Figur Paul Neuhaus, ein deutscher Architekt. Eines Tages erhält er Post aus Japan. Man lädt ihn ein, im Gebiet Fukushima eine Künstlerkolonie mitaufzubauen.
Sie soll in der Nähe der 2011 explodierten Kernreaktoren zu stehen kommen. In jener Zone also, die nach der Katastrophe evakuiert wurde und inzwischen teilweise dekontaminiert worden ist.
Blühende Kirschbäume
Die Künstlerkolonie soll sichtbar machen, dass eine Rückkehr in die Strahlenzone wieder möglich sei. Neuhaus nimmt den Auftrag an, fliegt nach Japan und bereist im Auto die Region um die havarierten Atommeiler.
Die Fahrt geht durch wunderschöne Naturlandschaften. Die Kirschbäume blühen.
Der Geigerzähler schlägt aus
Aber der Schein trügt. Der mitgeführte Geigerzähler schlägt immer wieder bedrohlich aus.
Und die Berge mit Plastiksäcken am Wegrand beklemmen: Sie sind voll von verseuchter Erde, welche die Regierung abtragen liess.
«Inzwischen sehen die Sackkolonien, grösser als die Dörfer, schon wie schwarze Plantagen aus, simulieren bestellte Felder, erinnern an die vorbildliche Landwirtschaft Fukushimas, auch wenn sie den Boden dafür eingesackt haben: Wir stehen vor einem japanischen Kunstwerk der Verzweiflung, einem flächendeckenden Tagebau des reinigenden Wahns.»
Die unsichtbare Gefahr
Es sind Stellen wie diese, die «Heimkehr nach Fukushima» zu grosser Literatur machen. In ihnen zeigt sich Adolf Muschg als feinsinniger Beobachter. Als einer, der das, was er sieht, mit einer lyrischen Sprache darstellt: die Angst der Menschen vor den unsichtbaren Strahlen; die Verzweiflung des Bürgermeisters über ein entvölkertes Dorfs; Regierungsprogramme, die mit hohen Löhnen Arbeitskräfte in die Zone locken.
Uns Leserinnen und Leser durchfährt ein Schauder. Wir spüren den grösseren Zusammenhang. Fukushima als Fanal der unkontrollierbaren Natur: «Einmal von menschlicher Technik entfesselt, entlarvt sie menschliche Kontrolle als Illusion.»
Die Liebesgeschichte
Während des Besuchs in der Zone entspinnt sich zwischen dem Europäer Paul Neuhaus und seiner japanischen Begleiterin Mitsu eine Liebesgeschichte. Die Angst vor der Strahlung führt gelegentlich zu grotesken Szenen. So muss etwa der erste Sex im Stehen stattfinden, damit man mit der blossen Haut den verseuchten Boden nicht berührt:
«Mitsu schlang den Arm um seinen Hals, während ihre freie Hand ihn bei sich einführte, nicht ganz mühelos. Seine Füsse hatten ihren Stand verbreitert und taten gut daran. Er sah das Letzte kommen: den unfreien Fall auf vergifteten Boden.»
Szenen wie diese zeigen auf satirische Weise, mit welcher Macht der Gau von 2011 noch heute selbst ins Intimste der Menschen eingreift.
Insgesamt bleibt die Lovestory jedoch eher rätselhaft. Geht es da tatsächlich um Liebe und um Leidenschaft? Oder doch eher um einen blossen Zeitvertreib?
Auch bleibt die Geschichte zu blass, als dass sie als Metapher dienen könnte – für das Animalische und das Zurück-Geworfen-Sein auf das Existenzielle, wie es in Situationen der Gefahr bisweilen zu Tage tritt.
Adalbert Stifter als Alter Ego
Was den positiven Eindruck des Romans ebenfalls etwas schmälert, ist die zweite Erzählebene des Romans. Neuhaus liest einen Band mit Naturprosa des vor 150 Jahren verstorbenen Dichters Adalbert Stifter.
Immer wieder werden Passagen daraus zitiert. Die grossartigen Naturdarstellungen des Biedermeier-Autors Stifter stehen neben der Schilderung der prächtigen, jedoch verseuchten Natur Fukushimas.
Dieses Spannungsfeld mag reizvoll sein. Es belastet auf die Länge jedoch den Lesefluss.
Die Qualität dieses Romans besteht nicht in der Referenz an Adalbert Stifter, auch nicht in der erzählten Liebesgeschichte – sondern im Hinschauen auf das, was in der Zone ist – und in der Reflexion darüber.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 20.07.2018, 7.20 Uhr