Eines Tages stand die Schriftstellerin und Altorientalistin Kenah Cusanit im Berliner Pergamonmuseum vor dem Ischtar-Tor,einem babylonischen Stadttor aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Sie betrachtete dieses buchstäblich blaue Wunder aus glasierten Ziegeln.
Die Ziegel gefunden hat Robert Koldewey, einer der begnadetsten Archäologen seiner Zeit. Er grub sie im Dienst der deutschen Orient-Gesellschaft zwischen 1899 und 1917 aus. Zusammen mit dem Palast Nebukadnezars, dem Marduk-Tempel und dem Fundament des Turms von Babel.
Aber der Mann, der mit seinen Funden die beispiellose Hochkultur Babyloniens belegen konnte, wurde nirgends erwähnt.
Ein Roman, drei Richtungen
Nach einer kurzen Recherche beschloss Kenah Cusanit, ihm einen Roman zu widmen: ihm und den grösseren Zusammenhängen seiner Arbeit.
«Babel» bewegt sich in drei Richtungen: Der Roman erzählt erstens einen Tag im Leben von Robert Koldewey – 1913, am Vorabend des 1. Weltkriegs. Zweitens verfolgt er politische, gesellschaftliche und kulturelle Umwälzungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Und drittens führt er in die babylonische Geschichte, also Jahrtausende zurück.
Veränderung und Fortschritt
So erfährt man zum Beispiel, wie Koldeweys Funde belegen konnten, dass das Alte Testament grossenteils eine Sammlung babylonischer Geschichten ist. Prompt kam es zum sogenannten Babel-Bibel-Streit unter Forschern und Religionsgelehrten.
Man erfährt, wie die Fotografie, erfunden 1839, zu einer erheblichen Umdeutung der Welt führte. Wie überhaupt technischer Fortschritt, die Beschleunigung oder der Boom der Wissenschaften das Leben von Grund auf veränderten.
Parallelen zur Gegenwart
Kenah Cusanit sieht Parallelen zur heutigen Zeit. Die unglaubliche Bürokratie, mit der Koldewey konfrontiert war, seine Obsession mit Dokumentation, Datenerfassung und Kartierung: «Das hat heute in der digitalen Selbstbeobachtungswut seinen Höhepunkt gefunden .»
Die deutsche Regierung steckte damals 1.8 Millionen Goldmark in die Babylon-Expedition. Daher wollte sie auch einen Ertrag, nämlich Schätze für die Museen. Koldewey schickte jedoch nichts, hortete alles in Kisten. Nicht einmal der Aufforderung zu publizieren kam er nach.
Punkten im Staub
Das riesige Grabungsfeld wollte er ganzheitlich erfassen, in seiner Struktur und Geschichte. Funde interessierten ihn wenig. Ihm ging es um das Wesen der Bauten. Er wollte sie erforschen, nicht zusammenraffen und verschicken.
«Babel» ist ein faszinierendes und oft auch ein komisches Buch. Weil Robert Koldewey ein Kauz war. Und das staubige Grabungsfeld am Euphrat die perfekte Bühne für wissenschaftliche und zwischenmenschliche Grabenkämpfe. Koldewey gewinnt sie nach Punkten.