Sibylle Lewitscharoff kam spät auf die literarische Bühne, dafür mit überraschender Wucht. Sie war Mitte 40, als sie mit ihrem Text «Pong» 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewann. Pong, die Welt aus der Sicht eines Verrückten auf «höchstem sprachartistischen Niveau», wie die Jury urteilte.
Ein eigener Ton wird in dieser Geschichte angeschlagen: sonderbar und stilistisch aus den Angeln gehoben. Der Text brachte für Lewitscharoff den Durchbruch bei Kritik und Öffentlichkeit.
Prägende Ereignisse goss sie in Buchform
Lewitscharoff wurde 1954 als Tochter einer deutschen Mutter und eines bulgarischen Vaters in Stuttgart geboren. Sie war erst elf Jahre alt, als ihr Vater, ein Gynäkologe, Suizid beging. Das Ereignis bestimmte ihr Leben und drückte sich verdeckt oder explizit in ihren Büchern aus.
Etwa in «Apostoloff». Die Geschichte erzählt von der Überführung des exhumierten Vaters nach Bulgarien. 2009 bekam sie dafür den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen.
LSD für den Lesestoff
In Berlin, wo sie seit Jahrzehnten lebte, hatte Lewitscharoff Religionswissenschaft und Literatur studiert. Theologische Themen und ein spielerischer Hang zur öffentlichen Polemik prägten ihr Interesse. Früh entstand ihre Neigung zum Surrealismus und fantastischen Ausschweifungen. Sie experimentierte mit LSD und blieb auch viel später dieser Episode ihres Lebens treu.
Zu den Helden ihres bekanntesten Buches wurden der deutsche Philosoph Hans Blumenberg und ein Löwe. Ein Löwe, den nur der Philosoph sehen kann: im Arbeitszimmer, bei Vorlesungen und unterwegs. Der Roman, inspiriert durch einen Text des Philosophen, machte Lewitscharoff endgültig zum Liebling der Kritik.
Die Jurys liebten sie
Sie wurde Mitglied von Akademien in Darmstadt und Berlin. Hielt Poetik-Vorlesungen in Frankfurt und Zürich und wurde Stipendiatin der Villa Massimo in Rom. Zudem sammelte sie Preise und Ehrungen, bis zum Georg-Büchner-Preis, der ihr 2013 verliehen wurde.
Ihre Dankesrede zu diesem Anlass war alles andere als konform. Sie sprach darin kaum von Büchner, dafür von Jakob Michael Reinhold Lenz. Lenz, der Büchner nur als Titelfigur einer Erzählung diente. Das war Absicht und Andeutung.
Das Ende einer Erfolgsstory
Ihre Rede im «Staatsschauspiel Dresden» wurde wenig später zur Zäsur. Die Vortragsreihe dort ist seit Jahrzehnten etabliert. Lewitscharoff machte daraus einen Skandal. Sie sprach über Leben und Tod, über die Machbarkeit des Lebens unter den Möglichkeiten der modernen Wissenschaft.
Religiös-ethisch motiviert, wollte sie Grenzen setzen: Grenzen des Wünschbaren. Das misslang. Ihr fahriges Vokabular legte auch die Abwege frei, die in ihrer radikalen Gegenthese zur Gegenwart verdeckt sind.
Nach dieser Rede wirkte sie wie aus der Zeit gefallen. Sie habe die «wunderbare Chaussee des Erfolgs» verlassen. Ihre Bücher fanden nicht mehr die grosse Resonanz wie einst. Aber sie schrieb weiter: mehrfach über Dante und vom Himmel über Berlin.
Sibylle Lewitscharoff war seit 2010 an Multipler Sklerose erkrankt. Am Samstag, dem 13. Mai, ist sie nun in Berlin gestorben, wie der Suhrkamp Verlag unter Berufung auf das Umfeld der Autorin mitteilte.