Kenzaburo Oe war in Japan jahrzehntelang so etwas wie das «Gewissen der Nation». Kein Wunder, hat ihn der frühere deutsche Bundeskanzler Willy Brandt mit dem deutschen Schriftsteller Günter Grass verglichen.
Grass kam in Deutschland dieselbe Rolle zu wie Kenzaburo Oe in Japan. Beide Literaturnobelpreisträger thematisierten in Werk und Tat die Lehren aus der schmerzlichen Vergangenheit ihrer Länder.
Warner und Mahner
Kenzaburo Oe wurde 1935 im Dorf Ōse auf der japanischen Südinsel Shikoku als Sohn eines Grossgrundbesitzers geboren. Als Zehnjähriger erlebte er das Ende des Krieges mit. Er sollte eines der grossen Themen seines Werkes werden.
Verrat und Tod, Sexualität und Gewalt und das Leben in einer Welt, in der alle bestehenden Werte umgestürzt sind: Das wurde zum ersten grossen Themenkreis des jungen Schriftstellers. Dazu kamen die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki.
Zeitlebens trat Kunzaburo Oe als Warner und Mahner auf. Auch im hohen Alter schreckte er nicht davor zurück, die Bestrebungen der regierenden Konservativen nach Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassung heftig zu kritisieren.
Gleichzeitig setzte er sich an die Spitze der Antiatomkraftbewegung, die sich im Zuge der Katastrophe von Fukushima vor zwölf Jahren bildete.
Im Westen viel Neues
Mit 18 Jahren zog Kenzaburo Oe nach Tokio. Er studierte französische Literatur und beschäftigte sich mit Jean-Paul Sartre, über den er 1959 abschloss. Gleichzeitig entdeckte er Dante, Philip Roth, Jack Kerouac und Henry Miller.
Diese Einflüsse machten aus dem japanischen Schriftsteller einen westlich geprägten Autor, der massgeblich dazu beitragen sollte, dass sich die japanische Literatur im 20. Jahrhundert immer mehr auch in europäischer Tradition sieht.
Flucht im Fokus
Mit der Geburt eines schwerstbehinderten, hirngeschädigten Sohnes 1963 kam ein zweiter Schwerpunkt in Kenzaburo Oes Leben und Werk dazu. Bereits ein Jahr später nahm er das Thema auf und schuf mit «Eine persönliche Erfahrung» eines der Hauptwerke der japanischen Literatur der 1960er-Jahre.
Auch später sollte Oe auf das Thema zurückkommen. Während in den 1960er-Jahren das Hadern damit im Vordergrund stand, rückte er nun den behinderten Menschen ins Zentrum. In seinen Texten beschrieb der Autor dessen besondere Beziehung zur Natur und Umwelt, die er auf eine ganz eigene Weise kommentiert.
Fukushima und die Folgen
1994 – mit 59 Jahren – folgte der Nobelpreis. Kenzaburo Oe war erst der zweite japanische Schriftsteller, dem diese Ehre zuteil wurde. Damals stand er auf dem Höhepunkt seiner literarischen Karriere.
Allerdings wurde es bald still um den Schriftsteller. Nach der Trilogie «Grüner Baum in Flammen», die 1995 im Zuge des Nobelpreises auch auf Deutsch übersetzt wurde, erschienen nur noch vereinzelte Romane und Erinnerungsbände.
Als «Gewissen der Nation» aber hatte er in der Folge von Fukushima und der anhaltenden Diskussion um eine Neuinterpretation von Japans Rolle vor und im Zweiten Weltkrieg noch einige grosse Auftritte.
Am 3. März ist Kenzaburo Oe nun mit 88 Jahren an Altersschwäche gestorben.