Jerusalem, 1934. Hercule Poirot, der Detektiv in Agatha Christies «Murder on the Orient Express», lässt sich seinen Schnurrbart stutzen – ein monströses Exemplar. Nicht die Frage nach der Grösse interessiert Poirot. Sondern die Frage nach Symmetrie, nach der Beherrschbarkeit ungezügelter Natur.
Beherrschung ist für Poirot das A – und Ordnung das O. Er trägt diesen Moustache, symmetrisch zurechtgestutzt, als Zeichen seines vermessenen Wunsches nach Kontrolle.
Krimis rütteln an der heilen Ordnung der Welt
Die Frage nach der Symmetrie taucht in der Anfangsszene von «Murder on the Orient Express» dreimal auf: Nach dem Barbier bekommt Poirot zwei perfekte Eier zum Frühstück. Unter perfekt versteht er gleich gross. Aber kein Ei gleicht dem anderen. Die Symmetrie ist wieder gestört.
Auf dem Weg zu einem Verhör tritt Poirot mit einem Fuss in Pferdemist. Er tritt auch mit dem zweiten Fuss hinein. Symmetrie und Balance sind wieder hergestellt, auch wenn er dazu in den Mist der Welt treten muss.
Die drei Verdächtigen, die er verhört, sind die Vertreter dreier Weltreligionen. Poirot, Vertreter der weltlichen Ordnung, trifft auf drei Vertreter einer höheren Macht. Das ist Agatha Christies Panorama: Es geht um göttliche, um weltliche Ordnung, um deren Störung durch ein Verbrechen und um einen Detektiv, der seine (innere) Balance zu verlieren droht.
Verbrechen stören Ordnung und Gleichgewicht. Sie verstören: nicht nur innerhalb einer Handlung, sondern auch uns als Leserinnen und Leser.
Krimis lassen uns den Schrecken geniessen
Dass wir in der Fiktion Situationen durchleben, als seien sie echt, ist ein altbekanntes Phänomen. Aristoteles hat’s erfunden: die Katharsis. Wir fiebern mit und wissen doch zugleich, es ist nur erfunden.
Wir finden uns in Szenen wieder, in denen Stellvertreter unserer selbst Dinge durchleben, von denen wir hoffen, sie mögen uns im wirklichen Leben erspart bleiben. In der Kunst können wir diese Dinge geniessen – wenn auch mit Schrecken.
Krimis faszinieren Millionen Leserinnen und Serienfans, Jahr für Jahr. Conan Doyle, Stieg Larsson, Elisabeth George, Henning Mankell, Hansjörg Schneider und wie sie alle heissen mögen, überbrücken unsere Zugfahrten, hindern uns am Einschlafen. Aber was fasziniert uns daran? Fesselt uns bloss der Fall – oder ist da mehr?
Krimis ziehen uns in ihren Bann
Wie gute Krimis funktionieren, lässt sich an Hercule Poirots Ermittlungen zeigen: Sie transportieren mehr Fragen mit als die, wer es gewesen ist. Krimis funktionieren durch ihre Vielschichtigkeit. Auf vielschichtige Art verstören sie unsere Sehnsucht nach ästhetischer Balance und wohlig-weltlicher Ordnung.
Wie sehr Krimis mit dem Mittel der Verstörung arbeiten, unsere Bereitschaft vorausgesetzt, uns auch kathartisch verstören zu lassen, sagt Christine Lötscher, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin im Interview.
SRF: Weshalb verstören uns Krimis?
Christine Lötscher: Man kann sich die Wirkung von Krimis nicht denken ohne unsere naturwissenschaftliche Sicht auf die Welt. Deren Annahme ist es, dass sich die Realität vollkommen mit wissenschaftlichen Methoden beschreiben lässt.
Krimis sind das Genre der Verstörung par excellence.
Die Welt des Faktischen gaukelt vor, die Welt sei verstehbar, kontrollierbar, formbar. Der Krimi zerstört die Gewissheit, dass die faktische Welt alles ist. Hinter dem Faktischen scheint immer etwas verborgen.
Was löst das aus, wenn das Rationale nicht alles zu sein scheint?
Wenn die rationale Welt auseinanderbricht, wird sie existentiell verstörend und bedrohlich. Im Krimi setzen wir uns genau dem bereitwillig aus. Krimis sind das Genre der Verstörung par excellence. Beim Lesen eines Krimis wird das Verlieren der Kontrolle zum Genuss.
Im Krimi taucht Irrationales auf, Unerklärliches, Unkontrollierbares, Gewalt bis zum Mord, die Bereitschaft eines Täters, jede Grenze zu überschreiten. Wie können wir diese Szenarien geniessen?
Geniessen könnten wir das nur, weil es am Ende zu einem Abschluss kommt. Entweder geht einer in den Knast oder die Menschen organisieren sich neu.
Das lässt auch eine psychoanalytische Sicht zu: als schauten wir den dunkelsten Seiten unseres Unbewussten im Krimi ins Gesicht.
Hat ein Krimi etwas Therapeutisches?
Den grössten Ängsten ins Gesicht zu schauen, hat etwas, das einem guttut. Wenn die Ängste nur hinterher auch bitte wieder weggehen und schön fiktional bleiben. Das Krimi-Lesen erlaubt uns, unsere Urängste hypothetisch zu erleben.
Krimis handeln auch von den Motiven des Täters. Plötzlich erscheint uns etwas nachvollziehbar, von dem wir bislang annahmen, es könne uns selbst nie passieren. Krimis kratzen also an unserer (Selbst-)Sicherheit. Verlieren wir durch Krimis unseren Glauben an die Menschheit?
Das Grundvertrauen in Menschen wird erschüttert, die Annahme, dass Menschen zumindest überwiegend das Gute wollen und dass ihre Handlungen verstehbar sind. Der Krimi lässt das alles zusammenkrachen.
Wie dieses Grundvertrauen zusammenkracht, zeigt die Serie «Broadchurch». Zu Beginn sehen wir einen Jungen, Blut trieft seinen Arm hinab, er steht an einer Klippe. Er fällt, am nächsten Morgen wird er tot aufgefunden. Was macht «Broadchurch» mit uns Zuschauern?
«Broadchurch» erzählt ohne viel Trara eine der grauenhaftesten Geschichten, die man sich vorstellen kann. Die Ermittlerin Ellie lebt in einem südenglischen Dorf.
Der Mörder ist der Mann an ihrer Seite, der eigentlich ganz sympathisch ist und ihr gemeinsames kleines Kind wickelt, den Hausmann spielt. Es ist eben nicht der unbekannte Serienmörder, es ist der uns vertrauteste Mensch, der Partner, der zum Mörder wird.
«Broadchurch» zeigt, wie durch den Mord ein gesellschaftliche System verändert wird: Das Misstrauen vergiftet alles. Die Bewohner beginnen, die Regeln ihres Zusammenlebens zu hinterfragen. Grosse Frage: Wann bekommt der Krimi eine gesellschaftliche Relevanz?
Wenn er für uns Zuschauerinnen zum Reflexionsraum wird, um über Gesellschaft, Recht, Gerechtigkeit und Wahrheit nachzudenken.
Krimis haben immer Täter und Kommissar, Jäger und Gejagte – deren Beziehung ist zentral. Kann man als «sauberer Ermittler» einen Mörder mit einem «kranken Hirn» überhaupt fassen?
Darin ist etwa Sherlock Holmes ein Grossmeister, der in das perverse Gehirn des Bösen, Moriarty, einsteigen kann.
Schon bei Arthur Conan Doyle und nicht erst in der Serie mit Benedict Cumberbatch ist angelegt, dass Sherlock einen Preis bezahlt, um in die Kaputtheit der Mörderseele zu schauen.
Das heisst, die Jagd verändert den Jäger moralisch?
Sherlock Holmes zahlt einen moralischen Preis, um den Täter zu überführen. Kann ich in das Geschehen der Welt eingreifen, ohne meine Hände blutig zu machen? Diese moralische Frage verunsichert uns als Leserinnen ungemein.
In Friedrich Dürrenmatts Krimi «Das Versprechen» ist ein Ermittler von einem Fall derart besessen, dass er ein kleines Mädchen als Köder benutzt, um einen Mörder zu fassen. Könnte man sagen: Dürrenmatt interessiert sich nicht so sehr für den Kriminalfall – als vielmehr für die Moral des Kommissars?
Es ist von einer gnadenlosen Konsequenz, wie Dürrenmatt beschreibt, wie der Kommissar an seiner Obsession zugrunde geht. Er glaubt, die Welt retten zu müssen und setzt dabei das Leben eines Kindes aufs Spiel.
Da bekommt der gute Zweck, der angeblich die Mittel heiligt, etwas Gespenstisches. Das wiederum verstört uns, weil es die moralische Frage stellt: Wie weit sind wir bereit zu gehen, um das Gute zu tun?
Krimis sind nicht gut oder schlecht
Von Dürrenmatt einmal abgesehen: Kriminalromane galten lange als Literatur zweiter Klasse. Noch bis in die 1980er-Jahre fassten gehobene Literaturkritiker Krimis nur mit spitzen Fingern an. «Das hat sich geändert», sagt Elisabeth Bronfen, Professorin für englische und amerikanische Literatur in Zürich.
SRF: Womit hing der Wandel in der Rezeption von Krimis in den 1990er-Jahren zusammen?
Elisabeth Bronfen: Das hing mit dem «Film Noir» zusammen, einem Genre mit einer ganz eigenen Bildsprache. Man fragte sich in den 1990er-Jahren: Welche literarischen Texte sind ihr Vorbild? So wurde der Literaturkanon ab den 1990er-Jahren neu diskutiert.
Gibt es gute und schlechte Kriminalromane?
Kriminalliteratur ist nicht a priori gut oder schlecht. Zu allen Zeiten hat es zwei Arten von Krimis gegeben. Zum einen die schnell geschriebenen Geschichten, denen man das auch anmerkt: Jedes Jahr eine neue Fortsetzung, die Figuren sind selten interessant, die Handlung folgt einem einfachen Who-dunnit-Fall, die Dialoge sind schematisch. Solche Krimis sind nur zur Ablenkung geschrieben.
Auf der anderen Seite gibt es etwa Krimis wie diejenigen von Susanne Moore: Diese sind literarisch interessant, haben eine psychologische Tiefe, enthalten Beschreibungen wie bei Raymond Chandler und seiner Figur Philip Marlowe. Es ist die Art und der Stil, wie ein Krimi geschrieben ist, die den Unterschied ausmacht.
Katzenkrimis sind der neuste Schrei
Was gute Krimis ausmacht, weiss Martin Schöne: Der Fachmann für Kriminalliteratur beim Kultursender 3sat bespricht seit 2006 ausnahmslos Neuerscheinungen. In 12 Jahren hat er mehr als 300 Bücher besprochen, privat liest er pro Jahr mehr als 100 Stück.
SRF: Wie hat sich das Krimi-Genre in den letzten Jahren verändert?
Früher wurde im Krimi am Schluss die Ordnung immer wieder hergestellt. Das hat in den letzten Jahren abgenommen – besonders in den «Hard-Boiled-Krimis» (Krimis mit hartgesottenen, gewaltbereiten Ermittler-Figuren, Anm. d. Redaktion). Der Schuldige wird beizeiten gar nicht mehr gefasst.
Eine Zeit lang waren Serienkiller modern. Diese mordeten aus heiterem Himmel, es gab oft gar kein richtiges Motiv. Der Killer war vielmehr psychisch labil und durchgeknallt. Das war auf Dauer zu einfach. Seit einiger Zeit kommt die Ernüchterung: Wir wollen wieder Motive, Gründe.
Und was ist «Le Dernier Cri» unter Krimi-Autorinnen und -Autoren?
Bei den aktuellen Trends ist kein singulärer auszumachen. Denn die gesamthafte Entwicklung geht dahin, dass das alte Krimi-Genre sich auffächert. Um sich auf unterschiedliche Publikumsinteressen sehr genau einzustellen, werden Subgenres kreiert.
Es gibt heute Polizeikrimis, Gerichtskrimis, Heimat- und Lokalkrimis, Katzenkrimis: Für jeden und jede etwas – immer präzise auf die Vorlieben eines bestimmten Publikums zugeschnitten.