An sich ist es nur logisch, dass Ivna Žics Erstlingsroman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises steht. «Die Nachkommende» gehört mit Sicherheit zum Besten, was an Schweizer Literatur in diesem Jahr erschienen ist.
Trotzdem ist die Nomination der kroatisch-schweizerischen Theaterautorin und Regisseurin eine Überraschung. Denn abgesehen von einigen wenigen Rezensenten hatte kaum jemand diese neue literarische Stimme auf dem Radar. Das ändert sich jetzt.
Plötzlich sitzen die Ahnen im Abteil
Ivna Žics Roman ist eine Selbstfindung. Oder vielmehr eine Selbstbefragung. Eine junge Frau fährt im Nachtzug von Paris nach Zagreb und kann nicht schlafen. Zu heiss ist es, zu eng. Ausserdem schnarcht die Nachbarin.
Also wälzt sie sich hin und her, denkt an den Liebhaber in Paris, den sie gerade verlassen hat, denkt an die Besuche auf der kroatischen Insel, wo sie jeden Sommer hinfährt, und kriegt selbst Besuch. Die Ahnen sitzen plötzlich im Abteil.
Der Grossvater, der früher mal Maler gewesen ist und später nur noch Kindergeschichten erzählt, die Grossmutter, die in der Familie Inselgrossmutter genannt wird und als einzige noch lebt, und die Zagreber Grossmutter, die einen Pelzmantel besitzt. Alle tauchen auf mit ihren Geschichten und scheinen der jungen Frau die entscheidenden Fragen zu stellen: Wer bist du, woher kommst du, wohin gehst du?
All die Chrigis und Sämis
Die junge Frau kommt aus Zagreb. Aus der Plattenbausiedlung Novi Zagreb, um genau zu sein. Noch vor dem Jugoslawienkrieg wandert die Familie nach Zürich aus.
Dort wächst sie auf unter all den Nadines und Stefanies und Chrigis und Sämis und geht in den Chindsgi, wo sie von einem Tag auf den anderen Schweizerdeutsch zu reden beginnt.
Die Sommer verbringt sie mit der Familie auf der kroatischen Insel, wo es warm ist und leicht, und wo sie Jahr für Jahr die alten Freundinnen trifft, die heiraten, Kinder kriegen und so ganz anders unterwegs sind als die junge Frau in Zürich.
Keine Schrulligkeiten
Der Roman zeigt das Hin- und Hergerissensein der jungen Seconda. Was ihn aber darüber hinaus so überzeugend macht, ist die Sprache. Der Flow. Lässt man sich darauf ein, liest man das Buch in einem Zug durch.
Dazu kommen Rhythmus und Puls, die ihresgleichen suchen. Nichts ist gekünstelt, keine Experimente, keine der Jugend geschuldete Schrulligkeit. Hier stimmen Form und Inhalt zusammen.
Eine Migrationsgeschichte dreier Generationen
Gegen Ende sitzt die junge Frau im Bus. Diesmal auf der Rückreise. Von Zagreb nach Zürich.
An der slowenischen Grenze bleibt der Bus stehen. Und während sich die junge Frau noch fragt, ob sie jetzt den roten oder den blauen Pass zeigen soll, taucht der Grossvater wieder auf.
Er geht denselben Weg wie sie, nur in die andere Richtung. Und über 70 Jahre früher. Denn seine Flucht nach Österreich ist misslungen.
Partisanen führen ihn und ein paar tausend andere zurück nach Zagreb. Was für Kroaten, die nach dem Krieg unter Generalverdacht der Kollaboration stehen, tödlich enden kann. Und oftmals auch tödlich geendet hat.
Der Grossvater aber kommt durch. Er redet fortan nie wieder darüber, sondern fängt an, seine Kindergeschichten zu erzählen.
So bekommt der Roman eine historische Dimension. In Wirklichkeit erzählt er nämlich die Migrationsgeschichte dreier Generationen. Das verleiht der Geschichte die nötige Tiefe und dem Roman seine Relevanz.
Ivna Žic ist eine neue literarische Stimme, die man sich ab sofort merken muss. Ganz egal, wie die Sache mit dem Buchpreis ausgeht.