Es sei ein grosser Schock, sagte James Baldwin immer wieder, wenn man als Kind irgendwann entdecke, aufgrund der eigenen Hautfarbe eigentlich inexistent zu sein in der amerikanischen Gesellschaft.
Dass für seinesgleichen nirgendwo in Amerika ein Platz vorgesehen war, prägt James Baldwins ersten, stark autobiografischen Roman «Go Tell It on the Mountain» von 1953.
Kindheit in Harlem
James Baldwin, 1924 in New York geboren, 1987 in Südfrankreich gestorben, stammte von Sklaven ab und wuchs in schwierigen Verhältnissen auf. Seinen Vater kannte er nicht. Der Stiefvater, ein glühender Laienprediger, drangsalierte ihn.
«Von dieser Welt», wie Baldwins Roman «Go Tell It on the Mountain» auf Deutsch neu heisst, entführt in die Welt eines 14-jährigen schwarzen Jungen in Harlem Mitte der 1930er-Jahre.
Es ist die Welt eines Ghettos. Die Menschen dort sind Gestrandete. Sie hatten nach einem besseren Leben in den Städten gesucht und es nicht gefunden, weil sie schwarz waren.
Von New York nach Paris
Mit 24 verliess Baldwin Amerika fluchtartig. Er hielt den Rassismus und die Perspektivlosigkeit nicht mehr aus. Er liess sich in Paris nieder und versuchte zu schreiben.
Aber die Frage «Kann ich existieren, wenn ich schwarz bin?» trieb ihn in den Zusammenbruch. Seine grosse Liebe, der Walliser Lucien Happersberger, brachte ihn zur Erholung in sein Heimatdorf Leukerbad.
Von Paris ins Wallis
Über seinen Aufenthalt dort Anfang der 1950er-Jahre schrieb Baldwin den Essay «Stranger in the Village». Noch heute ein tief berührender Text. Klar, dass die Kinder «Neger! Neger!» riefen. Klar auch, dass Baldwin hinter seinem Rücken bezichtigt wurde, dreckig zu sein und Holz zu klauen.
«Zuerst war ich so schockiert, dass ich nicht reagieren konnte. Dann versuchte ich es mit der ‹Lächle-und-die-Welt-lächelt-mit-dir›-Methode, dem wichtigsten Element afroamerikanischer Erziehung. Sie funktionierte so gut wie in der Umgebung, für die sie gedacht war: nämlich gar nicht.»
In der Geschichte gefangen
Baldwin sah die Dinge differenziert – es war sein Markenzeichen. Europäischen und amerikanischen Rassismus mochte er nicht in einen Topf werfen.
Leukerbad zeigte ihm einmal mehr: «Menschen sind in der Geschichte gefangen, und die Geschichte ist in ihnen gefangen.»
Trotz seines Bewusstseins für die Einschränkungen der anderen, und übrigens auch der eigenen, wies Baldwin mit Nachdruck darauf hin, dass Amerika seinen Fortschritt massgeblich der Sklavenarbeit verdankte und mit dem gewalttätigen Hass auf die Schwarzen von der Verantwortung für vergangene Verbrechen ablenkte.
Die eigene Wurzellosigkeit
Schaute er hingegen auf die Menschen in Leukerbad, von denen einige noch nie eine Schreibmaschine gesehen hatten und trotzdem der Meinung waren, Baldwin fehle «als Mensch schlicht die Zulassung», musste er die Segel streichen.
«Auch der Ungebildetste unter ihnen ist auf eine Weise, wie ich es nie sein werde, verbunden mit Dante, Shakespeare, Michelangelo, Beethoven und Bach. Man braucht nur ein paar Jahrhunderte zurückzugehen. Sie erstrahlen in vollem Glanz, und ich bin in Afrika, und sehe, wie die Eroberer kommen.»
Baldwin begriff den Schmerz über die eigene Wurzellosigkeit schliesslich als Teil seiner Wurzeln. Menschliches und künstlerisches Charisma verbinden sich in ihm auf einzigartige Weise. Noch immer inspiriert er.