«Wenn Sie in Neapel jemanden treffen, fragt er nicht: ‹Wie geht es Ihnen?› Er fragt: ‹Hast du gegessen?›»
Seit Jahrzehnten sammelt der Schweizer Schriftsteller Franco Supino Material rund um das Thema Essen. Hunger und Essen haben auch seine eigene Lebensgeschichte geprägt.
Von «zu wenig» zu «zu viel»
Seine Eltern hätten während des Krieges in Süditalien stark unter Nahrungsmangel gelitten, erzählt Supino. In die Schweiz sind sie auch gezogen, um dem Hunger zu entkommen und richtig satt zu werden.
Plötzlich hatten sie viel zu viel Essen, so Franco Supino. «Trotzdem bleibt dieser Drang ‹man muss genug haben›, wenn man einmal Hunger gelitten hat.»
Eine Person ohne Eigenschaften
Um das Zuviel und Zuwenig geht es in Supinos neuem Roman «Mehr. Mehr. Mehr.», einem Text für Jugendliche in Tagebuchform.
Dem gängigen Bild des rebellischen Teenagers entspricht die Hauptfigur in Supinos Roman nicht. «Die Figur ist völlig unsichtbar und verursacht für ihre Umgebung überhaupt keine Probleme», sagt der Autor.
Das Buch verrät wenig über seine Hauptfigur. Sie könnte jeder oder jede sein, ist weder alt noch jung, Mann noch Frau. Sie selbst nennt sich eine Person ohne Eigenschaft und will möglichst nicht auffallen. Diese Unsichtbarkeit verschwindet bei einem Zahnarztbesuch abrupt.
Bulimie der Worte
Der Zahnarzt sieht an ihren Zähnen Spuren, die das Erbrechen hinterlassen hat und kommt damit hinter ihr wohlgehütetes Geheimnis – die Krankheit Bulimie. Die Protagonistin versucht mit aller Energie, die Krankheit zu verbergen.
Um mit ihrer Scham und der Bulimie umzugehen, schreibt sie Tagebuch. Dabei lebt sie in ihren Einträgen eine Art schreibende Bulimie: Die Eintragungen sind ein Erbrechen von Emotionen, Gedanken und Worten. Wenn es zu viel ist, fliessen die Worte aus ihr heraus.
«Sie schreibt nur, wenn sie den Drang hat, zu schreiben», sagt Suspino. Diese Einträge in Wellen hätten auch seine eigene Schreibweise bestimmt: «Hinter jedem Eintrag muss ein Gefühl sein.»
Supinos unangenehmster Text
Die Protagonistin hat Angst, dass jemand ihre Texte lese und ihr Geheimnis entdecken könnte. Darum will sie ihr Tagebuch vernichten, damit dieses Ich nicht mehr existiert und sie ein neuer Mensch werden kann.
Aus Unsichtbarkeit und Scham Literatur zu machen hat Supinos gereizt. Gleichzeitig war es für ihn der unangenehmste Text, den er bisher veröffentlicht habe: «Ich musste mir alles vor Augen führen. Wenn ich sage, es geht um Scham, muss ich auch plausibel machen, wofür man sich schämt.»
Auf wenigen Seiten gelingt es Franco Supino, ein Thema, über das nicht gerne gesprochen wird, in klare Wort zu fassen und mit grosser Spannung zu erzählen. Bulimie wird so mit einer gewissen Unmittelbarkeit erlebbar.