Der 22. Juni 1941 ist ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Am frühen Morgen empfängt das Kommando der Roten Armee in Moskau von Truppen an der Westgrenze einen hektischen Funkspruch: Man werde beschossen und erwarte Anweisung.
Es ist der Beginn von Hitlers Überfall auf die kommunistische Sowjetunion unter Diktator Stalin. Zwei Jahre zuvor hatten die beiden Staatschefs noch einen Nichtangriffspakt unterschrieben. Doch schert sich Hitler einen Teufel darum. Er will im Osten «Lebensraum» für die «germanische Herrenrasse» gewinnen.
Plötzlich eine «unerwünschte Person»
Dieser Krieg, der zu den blutigsten der Geschichte zählt, wird im Mai 1945 im totalen Zusammenbruch des Hitlerstaats enden – und für Millionen unendliches Leid bedeuten.
Auch für den damaligen Teenager Karl Arnautovic. Er wird 1925 in Wien geboren und lebt zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls seit etlichen Jahren in Moskau.
Seine Eltern, zwei österreichische Kommunisten, haben den Jungen Jahre zuvor zu den Genossen in die Sowjetunion geschickt – in Sicherheit vor der gewaltbereiten Rechten in Österreich.
Karl lebt seither in einem Moskauer Kinderheim. Doch der Sommer 1941 verändert alles: Über Nacht werden viele der deutschsprachigen Emigranten «unerwünschte Personen». Auch Karl.
Die Umstände spielen Schicksal
Karl Arnautovic ist der Vater der heute 67-jährigen Schriftstellerin Ljuba Arnautovic. In ihrem neuen Roman «Junischnee» zeichnet sie seine verstörende Lebensgeschichte nach.
Das Buch zeigt, wie unerbittlich sich die politisch-historische Grosswetterlage in Biografien einschreiben kann. Weil 1941 Österreich seit drei Jahren Teil des Deutschen Reichs ist, gelten im Sowjetstaat lebende Österreicher nach Hitlers Überfall nun als «fünfte Kolonne», als potenzielle Spione und Agitatoren.
Das Geständnis: Folter – das Urteil: Straflager
Der berüchtigte Geheimdienst NKWD verhaftet auch Karl und steckt ihn ins Besserungslager für Jugendliche. Im Roman sind die Original-Protokolle der stundenlangen Verhöre abgedruckt. Ljuba Arnautovic hat sie in Archiven aufgespürt. Die Befrager verlangen von Karl zuzugeben, «konterrevolutionäre Tätigkeiten ausgeführt» zu haben. Karl bestreitet und bleibt zäh. Über Stunden. Ein Tag, zwei Tage.
Am dritten Tag bricht Karl ein und gibt zu Protokoll: «Ich gestehe in vollem Ausmass meine Schuld.» Es steht nicht im Dokument, aber es gibt nur eine Erklärung für das Geständnis: Folter. Das Urteil: Straflager in Sibirien.
Die gestohlenen Jahre
Im Gulag erwarten Karl Sklavenarbeit in Steinbrüchen, Torfstechen, Verlegen von Eisenbahnschienen, Holzfäller-Arbeiten. Karl überlebt nicht zuletzt deshalb, weil er sich den Kriminellen im Lager anschliesst: Schwerverbrechern, Mördern. Sie beschützen ihn vor der Gewalt anderer Gefangener und der Aufseher.
Karl wird am 5. März 1953 frei gelassen – just an dem Tag, als Stalin stirbt. Es ist reiner Zufall, eine Ironie des Schicksals.
Er heiratet, wird Vater der Tochter Ljuba. Er übersiedelt mit Frau und Kind nach Österreich. Doch er ist ein gebrochener Mann. Zu viele Jahre hat man ihm geraubt. Er findet keine Ruhe und geht fremd. Es folgen Scheidung und weitere Ehen.
Karl kämpft um seine Rehabilitierung. Die sowjetischen Behörden gewähren sie ihm. Allerdings erst Jahrzehnte später, 1991, kurz vor dem Zusammenbruch des Sowjetstaats.
Die Lebensgeschichte Karl Arnautovics ergreift. Und sie gebietet Ehrfurcht: Zahllosen Namenlosen ist vor 80 Jahren, nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, Ähnliches widerfahren.