Der französische Soziologe Didier Eribon ist ein Arbeiterkind. Über Jahrzehnte hat er seine Familie gemieden. Nach dem Tod seines Vaters kehrt er zurück – und stellt fest, dass seine Verwandtschaft geschlossen zum Front National übergelaufen ist. In seiner Biographie «Rückkehr nach Reims» will er herausfinden, warum.
SRF: Was hat die Rückkehr eines französischen Intellektuellen zu seinen Wurzeln in der Arbeiterklasse mit Ihnen zu tun?
Laura de Weck: Sehr vieles! Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll. Das Buch ist eine Totalkritik an der Linken. Und gleichzeitig strotzt es vor Passagen, die zeigen, wie wichtig die Linke ist. Eribon zeigt das, indem er seine Eltern beschreibt.
Die Mutter, eine Putzfrau, wollte Lehrerin werden. Auch der Vater wollte aufsteigen – und konnte es nicht. Diese Chancenungleichheit, in der die Figuren drinstecken und diese Unmöglichkeit aufzusteigen, gibt es heute noch. Und eben auch in der Schweiz.
Ob man in Kloten aufwächst oder im Zürcher Kreis 7, man hat einfach ein anderes – wie Eribon es nennt – «statistisches Schicksal».
Ob man in Kloten aufwächst oder im Zürcher Kreis 7, man hat einfach ein anderes – wie Eribon es nennt – «statistisches Schicksal». Für mich ist dieses Buch vor allem deswegen so aktuell. Wegen der Bildungsreformen, die es auch in der Schweiz noch braucht.
Welchen Stellenwert hat Eribons Buch unter all dem, was Sie 2016 gelesen haben?
Das Buch wird jetzt oft zum «Buch des Jahres» erklärt. Weil gerade jetzt nach den amerikanischen Wahlen, eine grosse Sehnsucht spürbar ist, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wie konnte es sein, dass einer, der lügt und Hass streut, amerikanischer Präsident wird?
Viele sehen, glaube ich, in diesem Buch die Antwort darauf. Man muss aber aufpassen. Inzwischen wissen wir, dass die Antwort mehrschichtig ist: Rassismus, Big Data, Wohlstand oder eben der Wechsel der Arbeiterklasse von links nach rechts, alles kann eine Rolle spielen.
Aber wie gelingt es Eribon mit seiner Mischung aus Autobiographie und Klassenanalyse, dass er auf soviel Zustimmung von allen Seiten stösst?
Indem er so persönlich ist und sehr viel von sich preisgibt. Und weil er über Scham spricht. Mir fällt in der Literatur nichts Vergleichbares ein, wo so deutlich über den Begriff «sich schämen» gesprochen wird. Scham betrifft jeden sofort persönlich und menschlich.
Mir fällt in der Literatur nichts Vergleichbares ein, wo so deutlich über den Begriff «sich schämen» gesprochen wird.
Jeder kennt das, sich für seine Sexualität oder seine Herkunft oder seine Bildung zu schämen. Jeder kennt den Wunsch, einfach mal jemand anderes sein zu wollen. Wie Eribon es eben getan hat und sich verstellt hat, um auf keinen Fall seine Herkunft preiszugeben. Allerdings mit der Erkenntnis, dass man seiner Vergangenheit und dem, woher man kommt, nicht entrinnen kann.
Und wie ist das geschrieben?
In der ersten Hälfte liest es sich tatsächlich wunderschön. Gerade die Beschreibung seiner Eltern: Er hat sie zu hassen gelernt und schafft es jetzt aber, sie sprachlich so liebevoll zu beschreiben. Plötzlich hat er Mitgefühl und Verständnis für ihre Handlungen. Und das eigentlich aus einer hassenden Position heraus – das fand ich sprachlich schon fantastisch.
Plötzlich hat er Mitgefühl und Verständnis für ihre Handlungen. Und das eigentlich aus einer hassenden Position heraus.
Im zweiten Teil des Buches, da verliert er sich manchmal in Abhandlungen und Ressentiments, die er gegenüber anderen Soziologen und Philosophen hat. Das interessiert mich dann weniger.
Hat Sie dieses Buch verändert?
Eribon zeigt: Es gibt die Gefahr, sich in einer Blase wiederzufinden, in der man sich nicht mehr für Dinge interessiert, die einem eigentlich verwandt sind. Das Buch hat mich nicht verändert, aber doch stark daran erinnert, immer wieder mit allen möglichen Leuten zu reden. Egal, ob das jetzt Geflüchtete oder Rechtspopulisten sind – einfach wieder mit den Leuten in Kontakt zu treten und deren Realität zu erfahren.
Wir alle suchen dieses Wir-Gefühl, endlich einer Gruppe anzugehören.
Eribon beschreibt, wie heute Menschen, die den Front National wählen, wieder zu einem «Wir» gehören wollen. Sie suchen, wie wir alle, dieses Wir-Gefühl, endlich einer Gruppe anzugehören. Wenn wir dieses Wir-Gefühl ausweiten auch auf Migranten etwa: Das ist eigentlich das Ziel, das Wir-Gefühl zu erweitern.
Wem empfehlen Sie dieses Buch zur Lektüre?
Allen natürlich! Und es haben ja auch schon viele gelesen. Eribon zitiert oft diese ganzen Philosophen und Soziologen, insbesondere Foucault. Und da denke auch ich, die nicht Philosophie studiert hat, manchmal: «Ach du, jetzt tu doch nicht so überheblich!» In dem Moment versteht man Eribons Eltern, die sauer wurden, weil er zum Beispiel ein englisches Gedicht rezitierte, das sie nicht verstanden. Man kann von diesem Buch auch ein bisschen eingeschüchtert werden. Aber das muss man nicht. Ich glaub, jeder versteht aus diesem Buch etwas.
Das Gespräch führte: Markus Tischer
Sendung: Literaturclub, 13.12.2016, 22.25 Uhr