«Nein, ich bin es nicht», sagt die älteste Tochter des holländischen Malers Jan Vermeer. Sie meint das genaue Gegenteil davon.
Höchstwahrscheinlich ist sie es, Maria Vermeer, die auf dem berühmten Gemälde ihres Vaters das blaue Haarband und den Perlenohrring trägt. So legt es zumindest die Geschichte nahe, die Martina Clavadetscher zu dem Bild erzählt.
Geheimnisse verkaufen sich
Maria Vermeer berichtet aus der Ich-Perspektive, dass die Figur auf dem Bild bestimmt keine «Griet» sei, kein Hausmädchen, wie der Film von 2005 mit Scarlett Johansson in der Hauptrolle behauptet. Maria erzählt, wie sie schon als junges Mädchen dem Vater Modell stand.
«Mit Geheimnissen verkauft man Bilder», habe der findige Kunsthändler Vermeer seinen Kindern immer erzählt. «Erzähl oder erfinde im Notfall eine spannende Lüge dazu. Aber lass dem Meisterwerk immer ein ungelüftetes Geheimnis», so die väterliche Devise, um Bilder für Kaufinteressenten spannender zu machen.
Als das Geld knapp und der Vater krank wird, übernimmt Maria den Handel und zieht nach seinem Tod einen Mythos um das «Mädchen mit dem Perlenohrgehänge» auf: Man wisse tatsächlich nicht genau, wer auf dem Bild sei. Sie selbst jedenfalls ganz bestimmt nicht: «Nein, die Tochter darf hier keine offensichtliche Rolle spielen. Wir haben schliesslich an die Sammler und an den Markt zu denken.»
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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«Ein bisschen irr»
Das ist typisch für die Geschichten, die Martina Clavadetscher rund um Frauenfiguren auf berühmten Gemälden erzählt. Sie liefern einen anderen Blickwinkel, lassen diejenigen zu Wort kommen, die sonst nur angestarrt werden. Und dadurch fördern sie Unerwartetes zutage.
Martina Clavadetscher hat umfassend recherchiert. Alles, was an Fakten über die 19 Figuren aus fünf Jahrhunderten zu finden war, hat sie zusammengetragen. Was nach der Recherche an Leerstellen blieb, hat sie mit Fiktion aufgefüllt. Das habe ihr einiges abverlangt, erzählt die Autorin: «Man wird dabei schon ein bisschen irr.»
Sie habe angefangen, sich fast wahnhaft mit diesen Figuren zu beschäftigen, und wollte beispielsweise herausfinden, welche Gebäude im 17. Jahrhundert in Amsterdam schon standen: «Ich bin auf Google Earth durch diese Strassen gestreift wie eine Detektivin.»
Dennoch war es Martina Clavadetscher wichtig, die Geheimnisse hinter den Bildern nicht vollständig zu lüften. Einerseits wegen des Reizes des Ungewissen, andererseits aus pragmatischen Gründen: «Zu viele Informationen bilden plötzlich ein sehr enges Korsett, in dem ich gar nicht mehr kreativ sein könnte.»
Wie durch ein Netz verbunden
Überraschend sei für die Autorin gewesen, dass sie Ähnlichkeiten in den Leben «ihrer» Frauenfiguren gefunden habe: «Ich bekam das Gefühl, dass alle diese Frauen wie durch ein Netz miteinander verbunden sind. Sie waren alle auf ihre Art und auf ihre Zeit bezogen sehr adaptionsfähig und kreativ beim Bewältigen dieser Situationen.» Kreativ wie zum Beispiel Maria Vermeer, die den Ursprung des Gemäldes mit dem Mädchen absichtlich verschleierte.
Martina Clavadetscher beweist mit «Vor aller Augen» einmal mehr ihre Lust an der stilistischen Vielfalt. Alle Figuren besitzen ihren eigenen Sound, werden als individuelle Stimmen erfahrbar und regen uns als vielstimmiger Chor an, unsere in aller Regel männlich geprägten Gewohnheiten beim Betrachten von Bildern zu hinterfragen.