Auf der Chaiselongue, mit Kamelhaardecke und Schwarztee: So liest Journalistin und Literaturkritikerin Sieglinde Geisel am liebsten. Weshalb einige Bücher – trotz Lieblingsort – ungelesen bleiben, verrät sie im Gespräch.
SRF: Gibt es so etwas wie ein liebstes Buch?
Sieglinde Geisel: Das wechselt natürlich die ganze Zeit. Kafka ist immer sehr weit oben. Aber auch Dževad Karahasan gehört zu meinen Lieblingsautoren. Sein Opus Magnum «Der Trost des Nachthimmels» ist hoch aktuell.
Der Roman spielt im Seldschukenreich des 12. Jahrhunderts und lädt einerseits in eine orientalische Wahrnehmungs- und Denkweise ein. Andererseits ist es eine Reflektion der politischen Gewalt, anhand des Erfinders der Selbstmord-Attentate.
Gerade habe ich den Roman «Dein ist das Reich» meiner Freundin Katharina Döbler gelesen – ein ganz fantastisches Werk, das auf der Geschichte ihrer Familie beruht und auf ganz neue Weise vom Kolonialismus erzählt.
Ihr bevorzugter Leseort?
Meine weinrote Chaiselongue in meinem Wohnzimmer. Da habe ich meine Kamelhaardecke und meinen Schwarztee – und dann lese ich.
Mehrere Bücher gleichzeitig?
Ja, das ist eine Unsitte! Ganz viele Bücher gleichzeitig. Komischerweise schafft man das. Ich habe auch Sonntagslektüre. Die hat überhaupt nichts mit Arbeit zu tun.
Ein Buch, das Ihnen die Liebe zum Leben eröffnet hat?
Ich komme aus einem Haushalt, wo man nicht gelesen hat. Ich war allein mit meinen Büchern, das war einerseits schön, weil ich damit in Ruhe gelassen wurde. Doch war ich auch orientierungslos: Wo finde ich Bücher, die für mich sind?
Nach Hesse wusste ich: Ich bin nicht allein.
Als Kind gab es die Bibliothek in Rüti, das war meine Anlaufstelle zum Beispiel für «Hanni und Nanni», Agatha Christie und Karl May. Dann wurde es schwieriger.
Irgendwann haben wir in der Schule «Unterm Rad» von Hermann Hesse gelesen. Das war mein Einstieg in die Literatur. Da wusste ich: Ich bin nicht allein.
Ein Buch, das Sie immer wieder zur Hand nehmen?
Georg Friedrich Lichtenbergs «Aphorismen» sind unerschöpflich. Oder die Essays des amerikanischen Romanciers und Essayisten William H. Gass, der vor drei Jahren gestorben ist. Mit ihm habe ich noch einmal neu lesen gelernt.
Auch die Bücher von Peter von Matt lese ich permanent mit viel Gewinn. Genau wie die Essays von Virginia Woolf.
Gibt es ein Leseleiche – also ein Buch, das Sie niemals zu Ende lesen?
Mit zunehmendem Alter lese ich immer weniger Bücher zu Ende. Die Welt wird ja nicht besser, wenn man Bücher fertig liest, die nicht zu einem sprechen.
Ein Buch, das Sie gerne verschenken?
«Vielleicht Esther» von Katja Petrowskaja. «Alle Farben des Schnees» von Angelika Overath und «Dein ist das Reich» von Katharina Döbler.
Ein Buch, bei dem Sie laut lachen mussten?
«Tristram Shandy» von Laurence Sterne, denn da gibt es so viele Überraschungen. «Gullivers Reisen» von Jonathan Swift und «Neue Vahr Süd» von Sven Regener – eigentlich eine reine Männergeschichte, mit Wehrdienst und Weiteres, aber von einer unglaublichen Situationskomik.
Ein Buch, das Sie gerne Kindern vorlesen?
Alle «Mumin»-Bände von Tove Jansson. Und die gute alte Astrid Lindgren. Bei «Karlsson vom Dach» musste ich meinem Sohn die Stelle mit der Pfannkuchen-Tirritierung sicher 50 Mal vorlesen. Ich fand es herrlich, dass ein Kind die Situation immer wieder als neu empfindet, obwohl es schon genau weiss, was kommt.
Ein Buch, dem Sie mehr Leser und Leserinnen wünschen?
«Wer wir sind» von Lena Gorelik. Das ist das klügste Buch über Migration, das ich kenne. Gorelik kam als Elfjährige mit ihren Eltern und der Grossmutter aus St. Petersburg nach Deutschland.
Die Welt wird nicht besser, wenn man Bücher fertig liest, die nicht zu einem sprechen.
Für jeden von ihnen bedeutet die Migration etwas anderes. Die Geschichte wird so feinfühlig, hintergründig und offen erzählt, dass man nachher anders durch die Welt geht.
Das Gespräch führte Markus Tischer.