Er ist getrieben, ja besessen vom Tod: Ein fiktiver Schriftsteller Mitte 50 ist die Hauptfigur im Roman «Lieben» des Norwegers Tomas Espedal, der 1961 in Bergen geboren wurde und zu den bekanntesten Autoren des Landes zählt.
Der Schriftsteller im Roman hat einige persönliche Krisen hinter sich: gescheitert als Ehemann und traumatisiert vom Erlebnis, wie schwere Krankheiten Bekannte qualvoll dahinrafften.
Er erliegt dem Alkohol, ersäuft sich förmlich. Bis er sich – mit einem Bein bereits im Grab – aufrappelt und den folgenschweren Entschluss fasst, sich nun lediglich noch ein Jahr Leben zuzugestehen und dann den Freitod zu wählen.
Der Suizid als Akt der Selbstbehauptung
Er will einen «guten» Tod sterben. Nicht einen, «der jählings kommt als Unfall, oder als Krankheit, nicht denjenigen, den man verdrängt und verleugnet», sondern den Tod, «dem man entgegengeht».
Die Romanfigur ist erfüllt von der Angst, «den Atem zu verlieren, die Nase zu verlieren, den Mut zu verlieren» – und dadurch das scheinbar Letzte einzubüssen, das ihm noch geblieben ist: «seinen eigenen Tod.»
Der neue Lebenshunger
Doch die Romanfigur übersieht das philosophische Dilemma, in das sie sich manövriert. Mit dem eigenen Ablaufdatum vor Augen verändert sich die Einstellung zum Leben: Die Liebe erwacht – zur Natur, zur Geselligkeit mit Freunden, zu einer Frau, die von ihm ein Kind bekommen wird.
In der Seele des Mannes setzen sich Zweifel fest: «Gibt es denn niemanden, der ihm erzählen kann, dass er im Begriffe ist, den grössten Fehler seines Lebens zu begehen?» Am Ende bleibt offen, ob der Mann tatsächlich von der Brücke springen wird: «In den letzten Sekunden, in der Luft, wird er es ganz sicher bereuen.»
Sätze wie diese lassen beim Lesen den Atem stocken. Da ist nichts Raunendes in der Sprache. Alles ist direkt und präzise und orientiert sich bei allem Philosophischen am konkret Erfahrbaren. Und entwickelt dabei einen – im wörtlichen Sinn – atemberaubenden Sog.
Das eigene Leben als Steinbruch
«Lieben» ist der zehnte und letzte Band des autofiktionalen Grossprojekts, mit dem Tomas Espedal vor über 20 Jahren begonnen hat. Aus Protest gegen damals gängige Dogmen, wonach Literatur immer gesellschaftskritisch sein müsse.
Seither wartet Tomas Espedal Band für Band mit einer neuen Innerlichkeit auf, für die er sich in seiner eigenen Biografie bedient: dem Verliebt-Sein, persönlichen Krisen, der Begegnung mit der Kunst, dem Verhältnis zur Natur.
Doch das Biografische interessiert im Grunde wenig. Dafür umso mehr, wie es der Autor literarisch transformiert. Wie er eine Vielzahl von Registern wie Kurzgeschichte, Essay oder Langgedicht zieht. Wie er Anspielungen auf die Weltliteratur einflicht. Oder drängende Zeitfragen wie den Klimawandel.
Autofiktionales Zweigestirn
Tomas Espedal steht mit seinem autofiktionalen Projekt in einer Reihe mit dem Norweger Karl Ove Knausgård, der ebenfalls mit einer breit angelegten Beschreibung des eigenen Lebens Aufsehen erregt hat. Im Unterschied zum hyperrealistischen, detailversessenen und ausufernden Knausgård zeichnet sich Espedal in seinen schmalen Büchern durch ein Maximum an Verdichtung aus.
Knausgård schloss seine Lebensbeschreibung bereits 2011 ab. Mehrere Tausend Seiten. Mit «Lieben» ist nun auch für Espedal Schluss.
Unter dem Label «Autofiktion» sei in Norwegen von anderen Schreibenden «nicht immer gute Literatur» verfasst worden, liess Espedal in Interviews verlauten. Es sei für ihn nun «einfach genug» mit dieser Form der Literatur, sie sei «jetzt tot».
Mit «Lieben» hat Tomas Espedal seinem Projekt einen «guten» Tod beschert – so ähnlich, wie es sich die Hauptfigur in diesem Roman stets gewünscht hat.