Sehr geehrte Louise Bourgeois,
Sie sehen, ich habe das Bedürfnis nach ein wenig Formalität, wenn ich Ihnen schreibe; man könnte sich fragen, warum ich es nicht getan habe, solange Sie lebten, ein langes, arbeits- und im fortgeschrittenen Alter auch erfolgreiches Leben als Künstlerin, angetrieben, so scheint es, von den Verletzungen und Kränkungen, die Sie als Mädchen erfahren hatten; der Vater, so sagten Sie, nahm Sie als Mädchen nicht ernst, und er hinterging Ihre geliebte Mutter, indem er zehn Jahre lang eine Liaison mit dem englischen Kindermädchen unterhielt.
«Ich vergebe nicht und ich vergesse nicht»; das war bis ins hohe Alter Ihr Mantra; dass Sie ausgerechnet dafür geliebt werden wollten, kann ich mir nicht vorstellen. Also keinen Liebesbrief von mir für Sie, eher eine Nacherzählung meiner Bewunderung, mit etwas Neid gewürzt; ich stelle mir Sie gern als unabhängige Person vor, nicht angewiesen auf Anerkennung und einigermassen immun gegenüber Kritik; einzig dem Anspruch verpflichtet, den Sie selber an Ihre Arbeit stellten.
Ausserdem bilde ich mir ein, der späte Welterfolg habe Ihrer Arbeit nicht den Stachel genommen, Sie nicht auf billige Weise versöhnt mit der Welt.
Was Sie einmal über Ihre Arbeit formuliert haben, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen; ich kann es auswendig, par coeur: «My early work is the fear of falling. Later on it became the art of falling; later on it became the art of hanging in there.» Daran versuche ich mich beim Schreiben zu halten, hanging in there; erst jetzt habe ich die Übersetzung dafür nachgeschaut, «am Ball bleiben, nicht aufgeben» steht da, während ich mir jahrelang vorgestellt habe, wie Du, Louise Bourgeois, selber im Dazwischen hängst, am Seil oder in den Seilen wie Deine Fleischstücke; in der Ambivalenz verharrend, die Angst vor dem Fallen aushaltend ebenso wie dem Wunsch, Dich fallen zu lassen, nicht nachgebend; eine Ambivalenz, wie sie auch Deine vielleicht bekanntesten Werke charakterisieren, die überdimensionierten Spinnen, vor denen man Angst hat, die aber auch den Lebensfaden weben und einem ein Dach über dem Kopf gewähren.
Liebe Louise, nun bin ich doch beim Du gelandet – und bei der Dankbarkeit; seltsam genug, aber so empfinde ich es, ich möchte Dir danken für das, was Du in deinem Werk mit uns teilst: Den Schmerz und die Wut und die Kraft des Lebens selbst.
Sei von ferne herzlich gegrüsst
Deine Ruth