Verehrter Herr Johannes Brahms, Tonschöpfer und Frauenversteher
Sie haben vor über 150 Jahren «Vier Gesänge opus 17» für dreistimmigen Frauenchor mit Begleitung von zwei Hörnern und Harfe komponiert. Dafür liebe ich Sie. Ich möchte mit Ihnen zusammen sein. Aber das ist aus gewissen Gründen nur bedingt möglich.
Obwohl Sie Ihr Leben lang keine feste offizielle Bindung eingegangen sind, nie verheiratet waren, auch nicht zum Schein, möchte man beim Anhören des ersten der vier Lieder meinen, Sie verstünden auf geradezu abgründige Weise das Wesen der Frau. Oder müsste ich anders fragen: eben gerade weil Sie die Frauen verstanden haben, hüteten Sie sich vor einer Eheschliessung?
Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen kurz schildere, weshalb ich Sie liebe?
Sie eröffnen das Chorlied mit zwei aufsteigenden Quarten im Horn, dann hört man eine erste Harfengeste wie ein Rauschen mit Krinolinspitzen, eine Frau schaut Caspar-David-Friedrich-ähnlich aus dem Fenster in eine terzenlose Landschaft.
Quarten bedeuten für mich: archaisch, vor-europäisch. Horn bedeutet: aus Erz gegossenes Metall, der Ruf, ein Naturlaut aus der Erde. Harfe bedeutet: Etwas wird berührt und verflüchtigt sich gegen oben. Verstehen Sie? In den ersten vier Takten komponieren Sie, dass Frauen zwischen irdisch und überirdisch frei schwingen möchten. Dass man sie zwar antippen, aber nicht anschieben sollte. Dass sie einen Raum möchten, aber keine Eckwerte. Dafür liebe ich Sie.
Doch gehen wir weiter im Gesang.
Das Archaische des Quartenklangs kippt ab Takt 5 um in einen Septimenakkord: Dieser Akkord meint hier wohl: Gebet Acht, eine Falltür geht auf, wir schauen hinab in die Untiefen der Natur. Sie und wir Frauen wissen, dass nur Paare, die die Abgründe des anderen kennen, ertragen und annehmen, wirklich zusammen sein können. Wer verliebt ist, sieht nur das Obere, Flirrende, vom Dunklen Unversehrte. Sie, verehrter Herr Brahms, haben seit Ihrer Jugend, als Sie in Hafenkneipen mit Ihrem Vater für Prostituierte und Matrosen zum Tanz aufspielten, beides kennengelernt. Die liebende Mutter zu Hause und die Verführerinnen bei der Arbeit.
Doch gehen wir weiter im Gesang.
Horn- und Harfenlinien verschlingen sich: im Horn Vorhalte, in der Harfe die stützenden Harmonien, beide ziehen sich gegenseitig zum magischen Moment hin, der jetzt eintritt: die drei Frauenstimmen setzen ein: g, b und c – die drei Horntöne des Beginns erklingen nun: ZUSAMMEN im Gesang! Und die mittlere der drei erliegt beim zweiten Klang gleichsam der Schwerkraft und bringt eine Mollterz.
Ich liebe Sie.
Die Gesangsmelodie schwelgt, schwingt aus und bleibt doch harmonisch der Einleitung verbunden, die Harfe umrauscht das Trio, gibt Halt, begleitet – stellen sich Frauen nicht so den idealen Tausch von Gesten, Bewegungen, Regungen zwischen Liebenden vor? Sie, ein Komponist, ein notorischer Junggeselle und Zigarrenraucher, der jahrzehntelang ein seltsames Verhältnis zur Witwe seines Förderers Robert Schumann unterhält, fängt genau DIESE sensible weibliche Masseinheit ein und veredelt sie ohne billige musikalische Anmache.
Ich liebe Sie, ich möchte gerne mit Ihnen zusammen sein. Die beiden Hörner . . . die Harfe . . . drei Stimmen. Ein sehnlichster Wunsch bleibt: Würden Sie vielleicht die Tonsilben meines Namens für Ihre nächste Komposition verwenden? G-A-C- E-A für Graziella? Zuhause äusserlich im 21. Jahrhundert, innerlich ganz in Ihrer Nähe, um 1860.
Ihre Graziella Contratto