Man stelle sich vor: Man kauft sich ein altes Haus und steckt viel Energie in die Renovation, Gips und Farbe. Freude über die neu erstrahlenden Gemäuer. Und dann plötzlich erfährt man: Im neuen Heim hauste Jahre zuvor ein übler Nazi-Verbrecher.
So ähnlich erging es dem flämischen Schriftsteller Stefan Hertmans, einem der bekanntesten Autoren aus Belgien. Er erstand 1979 als damals knapp 30-Jähriger im Zentrum seiner Geburtsstadt Gent ein altes und heruntergekommenes ehemaliges Patrizierhaus.
Jahrzehnte später erfuhr Hertmans, dass er das frühere Haus des flämischen Nazi-Kollaborateurs Willem Verhulst bewohnte. Jener war 1975 verstorben. Dieses Wissen erschütterte den Schriftsteller dermassen, dass er beschloss, der Sache nachzugehen. Herausgekommen ist der packende Roman «Der Aufgang».
Auf literarische Erkundungstour
Das Werk überzeugt durch seine behutsame Sprache. Und durch die Art und Weise, wie Stefan Hertmans verschiedene Erzählstränge miteinander verwebt – ähnlich meisterhaft wie in seinen früheren Romanen «Der Himmel meines Grossvaters» und «Die Fremde».
Der erste Strang in «Der Aufgang» ist ein Rundgang durch die vielen Räume des Genter Hauses: vom Keller bis hinauf in den Estrich, wo die Tauben hausen.
Auf einer zweiten Ebene schildert der Autor seine Recherchen: Studium von Tagebüchern, Gerichtsakten und Bildmaterial. Begegnungen von Betagten, die den Nazi-Verbrecher noch gekannt haben.
Mit fortschreitendem Kenntnisstand schält sich allmählich das Bild von Willem Verhulst heraus: ein fanatischer flämischer Nationalist, der erfüllt war von Hass auf den mehrsprachigen und multikulturellen belgischen Gesamtstaat.
Der ewige Konflikt
Damit nimmt der Roman Bezug auf den innerbelgischen Gegensatz zwischen niederländischsprachigem Norden und frankophonem Süden. Der Konflikt belastet das mehrsprachige Königreich Belgien seit seiner Gründung 1830. Und er spaltet das Land bis heute.
Für den flämische Nationalist und Wallonen-Hasser Willem Verhulst war Hitler ein Erlöser, weil er das «arische» Flandern als «West-Germanien» ans Deutsche Reich anzuschliessen versprach.
Als 1940 die Deutschen im Zuge der Westoffensive in Belgien einmarschierten, ging für Verhulst ein Traum in Erfüllung. Er wurde begeisterter SS-Mann und denunzierte Hunderte von Landsleuten als angebliche «Reichsfeinde».
Die Nazis entlöhnten den unermüdlichen Verrat ihres willfährigen Helfers reichlich. Und Verhulst liess es sich in seinem Genter Haus gut gehen.
Die Banalität des Bösen
«Verhulst war ein Spiessbürger», urteilt Stefan Hertmans. In seinem Roman schildert er ihn als Mensch ohne Charakter und Geist. Als einer, der sich – als bürokratischer «Schreibtischtäter» – nie die Finger schmutzig machte.
Die Frage, «wie eine solch banale Figur ein derartiger Verbrecher werden kann», habe ihn gefesselt, sagt Hertmans. Denn heute seien es erneut oft «triviale Jungs, die sich durch schreckliche Ideen verführen lassen und Populisten und Rechtsextremisten nachrennen».
Am Ende ist es die uralte Frage nach dem Ursprung des Bösen, die Stefan Hertmans umtreibt. Er liefert keine einfachen Antworten. Aber es gelingt ihm, uns Leserinnen und Leser an der Suche danach zu beteiligen. Und in uns eine Erschütterung für das Geschilderte zu erzeugen, die weit über die Lektüre des Romans hinaus nachhallt.