Klar, André Hellers Roman ist vermutlich nicht in eine Reihe mit den Werken Joseph Roths oder Musils «Mann ohne Eigenschaften» zu stellen. Welcher Text ist das schon? Aber in seiner anmutsvollen Bizarrerie entfaltet das «Buch vom Süden» dennoch einen Charme und einen erzählerischen Witz, den in dieser herrlich wohlausgewogenen Absonderlichkeit vermutlich nur André Heller zustandebringt.
Erzählt wird die Lebensgeschichte des Wiener Exzentrikers Julian Passauer. Julian wächst als Sohn einer jüdischen Familie in der väterlichen Beamtendienstwohnung in Schloss Schönbrunn auf. Der Vater, ein Zoologe, ist Vizedirektor des Naturhistorischen Museums, und wie der alte Passauer hegt auch Sohn Julian eine Obsession für südliche Gefilde. «Julians Vorstellung vom Glück», so heisst es, «war die baldige Auffindung des vollkommenen Südens.»
Rilke gegen Halsweh
Im ersten Teil des Romans steht freilich Wien im Mittelpunkt. Die von muffigem Kleinbürgergeist erfüllte Donaumetropole der 1950er- und 1960er-Jahre wird auf nostalgische Weise wieder lebendig; auf den ersten 150 Seiten lässt Heller aber auch altösterreichische Figuren von prachtvoller Exaltiertheit vorstellig werden.
Da ist zum Beispiel Doktor Kundratitz, der Hausarzt der Passauers, der leichtere Beschwerden mit Gedichten von Rilke oder Shelley kuriert, die er hastig auf Rezeptblöcke kritzelt – bei Halsweh oder Fieber zu lesen, dreimal täglich, morgens, mittags und abends.
Da sind aber auch der Passauersche «Hauswüstling» Hugo Cartor, der die Familie mit gewagten erotischen Erzählungen unterhält, und der exzentrische Graf Eltz, ein wohlhabender Privatier, der um geistreiche Einsichten in die Seele des Homo Austriacus kaum je verlegen ist: «Der gelernte Österreicher», stellt Graf Eltz fest, «ist kein Mensch schneller Entschlüsse. Er ventiliert behutsam ein Problem, betrachtet und untersucht es von allen Seiten, atmet tief ein und ebenso tief mit einem Seufzer aus und trifft dann häufig eine völlig idiotische Entscheidung.»
Aus Aperçus wie diesen spricht eine tiefe Einsicht in die komplexen, von unauflöslichen Antagonismen beherrschten Mechanismen der «österreichischen Seele».
Anflug von Autobiographie
Im zweiten Teil des Romans begleiten wir den melancholischen Sinnsucher Julian Passauer auf seiner langen Reise zu sich selbst: Passauer umrundet Afrika per Schiff, er wird Pokerprofi und erspielt sich ein stattliches Vermögen, das er – Achtung: autobiographischer Bezug – in eine herrschaftliche Villa am Gardasee investiert.
Passauer gestaltet den Park der Villa zu einem eindrucksvollen Gartenkunstwerk und lässt sich, ein Freund der Frauen seit jeher, von diversen Liebschaften – archetypischen Lehrmeisterinnen – wertvolle Lebenslektionen erteilen.
Grosses Lesevergnügen
Von einigen Rezensenten – nicht von allen – wurde André Hellers Roman erwartungsgemäss verrissen: von Paulo-Coelho-haften Anklängen und «schlimmem Kitsch» war da die Rede. Das sollte man keinesfalls ernst nehmen.
André Heller hat einen heiteren, sprachlich virtuosen Roman voller Melancholien und amüsanter Überspanntheiten geschrieben, einen Roman, den man – auch wenn er seine sprachliche Brillanz dann und wann ein bisschen zu sehr ausstellt – mit grossem Vergnügen liest.
Das Leben im Süden: Es scheint dem Autor auch in kreativer Hinsicht gut zu tun.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 09.05.2016, 16:50 Uhr