Hauptbahnhof Zürich, im November 1924: Die 13-jährige Laura d’Oriano sitzt im hintersten Wagen des Orientexpress auf dem Weg von Konstantinopel nach Paris. Der 19-jährige Felix Bloch beobachtet derweil bei den Geräteschuppen die ein- und ausfahrenden Züge. Und der etwas ältere Kunstmaler Emile Gilliéron ist auf dem Weg zum Genfersee, wo er auf Wunsch seines Vaters dessen Asche in das heimische Wasser streuen soll.
Ob es wirklich an ein und demselben Tag war, kann der Autor und Ich-Erzähler nicht mit letzter Sicherheit sagen. Doch könnte es tatsächlich sein, dass sich die historischen Vorbilder der drei Protagonisten damals im Hauptbahnhof Zürich begegnet sind.
Drei Menschen, drei Schicksale
Wie die Züge auf verschiedenen Gleisen in alle Himmelsrichtungen ausfahren, so trennen sich auch die Wege der Heldin und der zwei Helden.
Im Laufe ihres Lebens zeigt sich, dass sich ihre Ideale und Träume nur teilweise verwirklichen lassen. Laura d'Oriano wird Kabarett-Sängerin und später Spionin für den französischen Geheimdienst, wofür sie mit dem Tod bestraft wird. Felix Bloch, der Pazifist, arbeitet am Atombomben-Projekt der Amerikaner nach der Devise: Wenn Amerika die Atombombe nicht baut, dann macht es Hitler. Emile Gilliéron hilft in Knossos auf Kreta archäologische Funde zu rekonstruieren und zu verfälschen, was von Historikern schon damals als höchst unseriös beurteilt wurde.
Gefühle kennt der Leser
Natürlich interessiert sich Alex Capus für die Gefühlswelt seiner Helden. «Aber ich möchte nicht Dinge erzählen, die der Leser selber wissen kann. Ich schildere die äusseren Ereignisse, aber wie sich der Held dabei gefühlt hat, das weiss der Leser oder die Leserin ganz genau. Ich habe es auch nicht gern, wenn mich der Autor für dumm hält».
Wie der Kunstmaler Emile Gilliéron minoische Tempelbemalungen rekonstruiert und aus einer Palme eine Lilie macht, so ergänzt auch Alex Capus die Leerstellen der unterschiedlichen Lebensläufe mit seiner Phantasie. Ein Schriftsteller darf das. Und Capus macht es mit viel Liebe und Respekt zu seinen Figuren.
Dichte und intensive Erzählweise
Eigentlich gäbe es über jede Figur genug für ein eigenes Buch zu erzählen, aber Capus will seine Geschichten nicht breit walzen: «Mir gefällt es, wenn ich dicht und intensiv erzählen kann».
Tatsächlich bereitet das Pendeln zwischen den drei Helden und den verschiedenen Schauplätzen in «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenleger» keine Mühe beim Lesen.
Der Roman bietet beste Unterhaltung und spannende Einsichten in kaum bekannte Biografien und in eine vergangene Zeit. Capus Sprache ist leise und poetisch, leicht und anmutig, und immer wieder mal leicht ironisch. Vor allem in den seltenen Auftritten des Ich-Erzählers.
Distanz, um die Geschichte in den Griff zu bekommen
Der Oltner Schriftsteller hat ein Flair für packende Stoffe, und diese findet er in der Vergangenheit. Er sagt: «Ausweichen auf Faktisches ist eine grosse Erleichterung. Man kann Sachen erzählen, die sonst niemand glauben würde.» Auch Thomas Mann schrieb sinngemäss: «Geschichten müssen vergangen sein. Je vergangener, desto besser».
Capus recherchiert sorgfältig und scheut dafür keinen Aufwand. Er hat mit Enkeln und Urenkeln der Protagonisten gesprochen und sich durch Archive in aller Welt gearbeitet. Selbstverständlich liest er Zeitungen aus den Dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts und er weiss, was damals im Kino gezeigt wurde. Er schaut sich Bildbände an, hört die damalige Musik und wenn sein Held den Reissverschluss am Pullover hochzieht, schaut er zuerst nach, ob es diesen damals schon gegeben hat. All das gibt Capus ein Gefühl für eine Zeit, die er selber nicht erlebt hat.
Wahrheit und Fiktion
Der Autor hat ganz seltene Ich-Einsätze. Er schreibt: «Mir gefällt die Vorstellung, dass…», oder «Ich wünsche mir, dass …», oder «… an welchem Tag genau, weiss ich nicht.» Damit zeigt Capus, dass er zwar seine Phantasie hat walten lassen, dass er mit seinen Figuren aber nicht alles machen kann. Weil ihr Lebensweg schon vorgezeichnet ist.
Fakt und Fiktion sind gekonnt verwischt, so dass man als Leser gefesselt ist und gar nicht mehr wissen will, was nun wahr und was erfunden ist. Geschichte und Phantasie ergeben eine Einheit und die historischen Figuren werden lebendig.
Wie sein Vorgänger «Léon und Louise» begeistert auch Alex Capus neuer Roman «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer» die Leserschaft. Das Buch, das beim deutschen Verlag mit einer Startauflage von 100‘000 Exemplaren gedruckt wurde, ist gleich nach Erscheinen auf Platz 1 der Bestenliste des Schweizer Buchhandels gelandet.