Sendungen zum Thema
«Als Zwölfjährige schreibe ich mein erstes Gedicht, nachts, als niemand sonst zu Hause ist. Darin spreche ich von Friedhöfen, von meinem Tod. Ich falte das Blatt ganz sorgfältig und lege es unter den Kerzenständer, damit meine Mutter es vor dem Einschlafen liest. Das Ergebnis tut gründlich weh. Am folgenden Morgen wollen mich einige energische Kopfnüsse lehren, dass das Leben schön sei.»
Diese Anekdote erzählte Alfonsina Storni am 27. Januar 1938 an der Universität Montevideo. Sie wurde eingeladen, einen Vortrag zu halten – eine grosse Ehre. Meist erntete sie mit ihren Auftritten, Artikeln und Gedichten heftige Kritik. Zu sarkastisch, zu zynisch, wenn auch humorvoll entlarvte sie gängige Klischees, tradierte Normen und Konventionen.
Mit vier Jahren nach Argentinien gezogen
So schrieb sie über die Frauen in ihrer Heimat, dem Tessin: «Lasst uns in die italienischsprachige Schweiz gehen… Treten wir in die Häuser, lernen die Frau auf dem Land kennen – und wir wollen vor lauter Erstickungsgefühl davonlaufen… Jene Frau wird uns geringer erscheinen als das schwerfällige Bergeselchen in unseren Anden – eine Art Taglöhner mit Ehegattinnen-Titel, eine Art Amme mit Mutter-Titel, eine Art Magd mit dem Titel Frau.»
Eigene Erinnerungen an Sala Capriasca, das Dorf, in dem sie 1892 zur Welt kam, dürfte die Poetin allerdings nicht gehabt haben. Denn Alfonsina ist erst vier Jahre alt, als die Familie nach Südamerika emigriert. Nicht aus Armut, sondern auf der Suche nach einem modernen, neuen Leben. Doch schon bald sind die Stornis Konkurs. Mutter und Tochter arbeiten, um die Familie über Wasser zu halten. 1906 stirbt der Vater. Ihre Mutter schweigt, schluckt, erduldet. So, wie es die Tessinerinnen zu tun pflegen, so Alfonsinas Überzeugung.
Selbstbestimmte Rebellin
In ihrer Rede «Zwischen halboffenen Koffern und dem Zeiger der Uhr» vom 27. Januar 1938 bringt sie die mütterliche Tradition mit ihrem Verlangen, das Unbegreifliche der Spezies Mensch in die Welt hinauszuschreien, in Verbindung: «All dies Beissende, Niedergekämpfte, Verstümmelte, alles, was in ihrer Seele eingeschlossen blieb, habe ich mit meinen Versen ins Freie geholt.»
Storni ist eine Rebellin, lässt sich von niemandem sagen, was sie zu sein, zu denken, zu fühlen, zu tun habe. Selbstbestimmung ist ihr oberstes Gebot. Sie will die Menschen wachrütteln, ermutigen, sich selbst zu sein, zur eigenen Persönlichkeit zu stehen, ihr Potential auszuschöpfen. Ein moderner Gedanke.
Storni verfolgt konsequent ihren eigenen Weg, und hält an ihren Prinzipien fest, selbst, als sie von einem verheirateten Mann schwanger wird. Sie entschliesst sich, den Knaben allein aufzuziehen und bleibt ihr Leben lang unverheiratet. Einsamkeit ist ihr steter Begleiter. Ebenso: finanzielle Unsicherheit.
Storni bleibt Visionärin
Als Theaterregisseurin und Kolumnistin versucht sie, die jungen Frauen zu mobilisieren gegen «fossile Männer, deren Gedankenwelt fast versteinert ist»: «Ihr Mädchen…: Ich schlage euch eine Jagdpartie im Wald der Fossilien vor. Ihr braucht keine anderen Waffen als eure Jugend, das Recht eurer Herzen und die Aufrichtigkeit eurer Leben…Na, reisst ihr euren Mut zusammen?»
Die Antwort lautet: Nein. Auch in Argentinien bleibt sie eine Visionärin: Storni, die Vordenkerin, die ihre rebellische Kraft aus ihrem tristen Heimatbild, dem Tessin, schöpft.
1935 wird bei Storni Brustkrebs diagnostiziert. Die Schmerzen werden unerträglich. Das Schreiben von Hand schier unmöglich. Drei Jahre später setzt sie ihrem Leben ein Ende. Selbstbestimmt. Kurz bevor sie sich im Meer ertränkt, schreibt sie ihr letztes Gedicht «Ich gehe schlafen».
Ihr Selbstmord ist das Motiv des Gedichtes «Alfonsina y el Mar» von Félix Luna, das von Ariel Ramírez vertont wurde und zu den bekanntesten lateinamerikanischen Liedern zählt.