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Literatur All die Wut: neue Erzählungen von A.L. Kennedy

Von den schrägen Schlagschatten der Liebe erzählt die schottische Erfolgsautorin Alison Louise Kennedy in ihrem neuen Buch «Der letzte Schrei». Es sind gelungene Variationen über Sucht und Sehnsucht, Sex und Verlust.

Man wird nicht sofort bewusstlos, wenn man aus dem Flugzeug fällt. Das hat Alison Louise Kennedy herausgefunden. Sie hat panische Flugangst und darum viel recherchiert, auch über den Absturz von Militärflugzeugen im Zweiten Weltkrieg. Seither ist sie nie in der Luft unterwegs, nie. Angst ist ihr Thema und Komik, jedenfalls in den abseitigen Lagen des Alltags.

Sendehinweis

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A. L. Kennedys Buch «Der letzte Schrei» ist am 7. April 2015 Thema im Literaturclub. Auf SRF 1 um 22:20 Uhr.

Auf der Kippe

Alison Louise Kennedy, kurz A.L., schreibt von der Liebe. Sie schreibt sehr kurz davon und ohne Kitsch, mit grosser Einfühlung in das Unmögliche und die Kippfiguren des Normalen. Das ist das erste Kunststück in ihren Kurzgeschichten. Kennedys zweites ist der Perspektivwechsel. Der ist virtuos gemacht und entwickelt einen Sog von Beginn an.

«Die Sache ist die: Du weisst, sie werden so ziemlich das Gleiche denken», heisst ein erster Satz – und: «Es war so, dass ich mich verlaufen hatte» ein anderer. Und der: «Es konnte nicht ewig gehen. Nicht das hier. Auf gar keinen Fall konnte es das.»

«Ich fühle gar nichts»

Die Situation ist da, sie ist unklar, aber man will wissen, jetzt gleich wissen, was los ist. A.L. Kennedy, die Erzählerin, arbeitet konsequent mit ihren Anfängen. Die Blickrichtungen werden sofort gewechselt, Gedanken sind Handlungen und umgekehrt. Impulse, Wünsche, Erinnerungen, alles wirbelt durcheinander.

Schnell muss das gehen – und doch: Es ist klug instrumentiert, präzises Kalkül. Das ist der Kennedy-Sound, und der gehört erst einmal ihr. Ihr und der angelsächsischen Moderne. «Ich fühle gar nichts beim Schreiben», hat sie gesagt. Denn alles ist schon passiert, passiert, lange bevor es losgeht.

Ein Stachel der Möglichkeit

Buchhinweis

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Legende: Keystone

A.L. Kennedy: «Der letzte Schrei». Hanser-Verlag, 2015.

«All the Rage», «All die Wut», heissen die Geschichten im englischen Original. Mit «Der letzte Schrei» ist das nicht wirklich gut übersetzt. Die Titelgeschichte erzählt von Pauline, von Emily und von Mark, dem Journalisten, und den Frauen. Unangenehm ist dieser Held, der gern einen kleinen «Stachel der Möglichkeit» in seine ziellosen Flirts legt. Gedanken an Sex und Suizid im Kopf, als sein Zug in einem englischen Provinzbahnhof plötzlich nicht weiterfahren kann.

Fremd und befremdlich ist das. Und doch nur eigenständig im Strom der Gedanken. Emily, die junge Trinkerin, ein Punk vielleicht, ist eine Affäre. Eine Zufallsbekanntschaft, die Mark beschäftigt. Sie ist das Rätsel, irgendwie nicht greifbar, unverletzlich, unerreichbar. Obsession und ein Verrat kommen ihm dazwischen, erzählt wie nebenbei, unsentimental. Mark wird scheitern an Emily – und an seiner Entfernung zu ihr.

Überlegungen zwischen bizarren Gerätschaften

Die Frau, die sich verlaufen hatte, tritt in der Geschichte «Baby Blue» auf. Baby Blue, nach Bob Dylans Song. Ausgerechnet in einem Sex-Supermarkt ist sie gestrandet, eine sehr traurige Trennung hinter sich. Plötzlich mittendrin in all den bizarren Gerätschaften, künstlichen Geschlechtsorganen und Kondomen mit Schokoladengeschmack. Und sie überlegt: «Ich finde, Oralsex sollte nicht in erster Linie ein kulinarisches Erlebnis sein.»

Die Schottin A.L. Kennedy tritt in Edinburgh auch als Stand-up-Comedian auf. Sie engagierte sich im Abstimmungskampf für die schottische Unabhängigkeit. Den Britischen Premier David Cameron hält sie für eine Figur aus «Macbeth», und an Margaret Thatcher interessiert sie vor allem, dass sie wirklich tot ist. Auch eine ihrer neuen Geschichten handelt von Politik. Es ist nicht ihre beste.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 7.4.2014, 17.50 Uhr.

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