«Von eins bis drei wird nicht geöffnet.» Das Schild hängt an der Wohnungstür und es signalisiert: Bürgerlichkeit. Es ist Zeit für den Mittagsschlaf, Störungen daher nicht erbeten. Eduard Strauss hat diese Nachricht verfasst, der Vater des Schriftstellers Botho Strauss. Er war in der pharmazeutischen Industrie tätig, jetzt ist er Heimarbeiter, ein Privatier mit geregeltem Zeitplan und die Hauptfigur in den Erinnerungen des Sohnes.
Die Krawattennadel mit Perle
Als Kriegsversehrter im Ersten Weltkrieg, Flüchtling aus Ost-Deutschland und sozialer Absteiger ist dieser Mann auf Form bedacht, auf Form, die Halt geben muss in einer derangierten Situation: Am Schreibtisch sitzt er nur in Anzug und Krawatte – und mit Krawattennadel mit Perle, die der Sohn besonders peinlich findet. Es sind Nachkriegsjahre in einer westdeutschen Kleinstadt, Aufbaujahre. Keine besonderen Vorkommnisse also. Oder doch?
Nur Zukunft überall
Das Besondere geschieht jetzt. Es ist die Erinnerung selbst, «das einzige, was noch expandieren kann», wie Botho Strauss schreibt. Denn damals, in den 1950er-Jahren, standen die Dinge noch bevor, schon das machte ihren Reichtum aus. Nur Zukunft überall und die Gegenwart in der Provinz, die Strauss in präzisen Erinnerungsschüben benennt: der erste Fernseher in der Wohnung mit dem langen Flur, Ilka, die unerreichte Liebe, das «auf und ab der schönen Mutter auf der Emser Römerstrasse».
Es gab die Quartettspiele mit Automarken, aber kein Auto, die «Tarzan»-, «Sigurd»- und «Akim»- Hefte, das «Texashemd» und das «Südstaaten-Fort» mit den Plastikindianern. Ärzte kamen ins Haus, zur Begrüssung zog man den Hut und im «Deutschen Fernsehen» lief Theater: «Neben Zorros schwarzer Peitsche liegt die Kritik der Urteilskraft.» Wie ein Anfall überkommt Botho Strauss manchmal die Vergangenheit.
Seine Erinnerungen brechen ab, als die Zukunft beginnt
Sieben Zimmer hat die elterliche Wohnung, «Sieben Zimmer» heisst auch ein Stück von Botho Strauss Ende der 1980er-Jahre. Zehn Zimmer bilden eine Szene in «Gross und klein», Strauss' berühmtestem Stück. Die Lotte, Lotte-Kotte aus Remscheid-Lennep, ist seine berühmteste Figur. Ihr Stationen-Drama ist ein grosses Lesestück. «Ich habe immer für das Theater geschrieben», hat Strauss einmal gesagt.
Seine Erinnerungen brechen ab, als die Zukunft beginnt. Der Aufbruch aus dem Elternhaus, der Umzug nach Berlin, die Arbeit an der «Schaubühne», die grossen Erfolge und Ehrungen, die politischen Einwürfe, der Umzug in die Uckermark, die Lage am Rand.
Melancholisches Nachdenken über die eigene Herkunft
«Den Vater und mich verbindet so etwas wie eine bürgerliche Moral des Scheiterns», schreibt er jetzt. Das sei stärker als alles andere. Er sieht nun den Aussenseiter in ihnen beiden, das verbindet, je länger je mehr, über den Tod hinaus. Ein melancholischer Zug durchzieht dieses Nachdenken über die eigene Herkunft. Und manchmal auch ein starker Akzent dagegen: «Immer nur dastehen und sich wundern? Das kann nicht alles sein. Man muss an seinem Vergehen mit Methode arbeiten, wie man ja auch beim Werden sich ins Zeug legen musste.»
«Übrig blieb: Vermischtes», so endet das schmale Buch: «Morgen wird die Wohnung entrümpelt. Morgen wird mein Zuhause aufgelöst.» Und alles beginnt.
Sendung: Kultur kompakt, Radio SRF 2 Kultur, 2.12.2014, 13.02 Uhr.