Es geht eine bleibende Faszination aus von diesem Verfasser von Gebrauchsstücken für derbe Bühnen in Londons Rotlichtviertel. Heute würde Shakespeare vielleicht «Tatort»-Folgen schreiben (was für «Tatort» allerdings ein Glück wäre).
Noch nicht mal, wann er geboren wurde, lässt sich mit Gewissheit sagen. Am 26. April 1564 steht «Gulielmus filius Johannes Shakspere» im Taufregister der Holy Trinity Church von Stratford-upon-Avon. Damals wurden die Neugeborenen in den ersten Tagen getauft, es gibt die Theorie, dass dies meist nach drei Tagen geschah – dann wäre der Geburtstag am 23. April. Allerdings ist Shakespeare auch an einem 23. April gestorben, 1616 – da ist die Abrundung dann fast zu schön, um wahr zu sein. Man weiss es nicht.
«Man weiss es nicht» ist ohnedies eine gute Einstellung, wenn man sich mit Shakespeare befassen will. Mark Twain hat das Problem schon vor 100 Jahren auf den Punkt gebracht: Eine Shakespeare-Biographie zu schreiben, sagte er, sei so ähnlich wie die Rekonstruktion eines Brontosauriers «aus neun Knochen und 600 Fässern Gips».
Der «wahre» Shakespeare
Das Paradoxe ist: Shakespeare ist einer der besterforschten Autoren – dennoch liegt seine Person im Dunkeln. Es gibt seine Texte und amtliche Dokumente, aber kein Tagebuch, keine Skizzen, keine autobiographischen Bekenntnisse – als die Shakespeare sein Schreiben ohnedies ganz bestimmt nicht verstand. Dichtung als «Konfession» zu sehen ist neuzeitlich gedacht.
Die karge Faktenlage öffnet der Spekulation Tür und Tor. Wer könnte statt Gulielmus filius Johannes Shakspere der «wahre» Shakespeare gewesen sein? Der Philosoph und Wissenschaftler Francis Bacon vielleicht, Schriftstellerkollege Christopher Marlowe (der nur dummerweise längst erstochen war, als Shakespeare die Mehrzahl seiner Texte schrieb), der Graf von Oxford oder vielleicht eine ganze Gruppe von Schreibern?
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Im Hintergrund steht die ungläubige Frage: Kann ein so einfacher Bursche vom Lande all die Texte geschrieben haben? Nur war Stratford im 16. Jahrhundert keineswegs ein Nest wie heute, und Shakespeare genoss eine erstklassige Schulbildung. Wie sie damals üblich war: Der elfjährige Sohn eines Gemischtwarenhändlers – nicht etwa ein privilegierter Adelsspross – konnte seinem Vater einen lateinischen Brief schreiben (den dieser auch verstand), gelehrte Anspielungen inklusive. Gehen Sie heute mal mit einer lateinischen Einkaufsliste ins «Dorflädeli»!
Wer war Shakespeare? Im Grund ist die Frage nicht relevant. Pointiert könnte man sagen: Shakespeare ist ein Buch. Nämlich die erste Gesamtausgabe seiner Stücke, die sogenannte «First Folio», die kurz nach seinem Tod herauskam. Wenn es sie nicht gäbe, würde heute niemand Shakespeare feiern. Mit andern Worten: «Shakespeare», wer immer er war, ist schlicht und einfach der Verfasser dieser Texte. Oder mit seinen eigenen Worten gesagt, einem Zitat aus «Romeo und Julia»: «Was sagt ein Name? Das, was Rose heisst / Würd gleichsüss unter anderm Namen duften.»
Die schönsten Metaphern, die schlausten Kalauer
Was ist es denn, das bis heute so süss duftet? Shakespeare war ein Sprachspieler. Die schönsten Metaphern, die schlausten Kalauer gehen auf sein Konto. Er war ein Menschenkenner, ein faszinierender Geschichtenerzähler und, das darf man nicht vergessen, ein Theaterkaufmann mit robustem merkantilem Sinn. Theater zu Shakespeares Zeit war der pure Kommerz. Der Eintritt ein Penny, gleich viel wie für eine Bärenhatz oder einen Laib Brot. Blutrünstige Gemetzel waren der Renner – was man dem Splatterdrama «Titus Andronicus» gut anmerkt, nichts als Mord und Vergewaltigung, oder «König Lear», wo einer Figur auf offener Bühne die Augen ausgestochen werden, beide wohlverstanden, oder «Hamlet», wo am Ende auch alle tot an der Rampe liegen.
Shakespeares Besonderheit war, wie er darüber hinausging. Sein ureigener Spagat: Theater zu schreiben, das gleichzeitig für die Masse interessant war, die nichts als Action wollte und moralische Bestätigung, und für eine Elite, die komplexe Konflikte goutierte und das subversive Spiel mit den moralischen Werten. Das macht ihn so viel interessanter als seine Zeitgenossen bis heute.
Der moderne Mensch
Mit einem Charakter wie Hamlet, dem Skeptischen, Nachdenklichen, Uneinheitlichen, tritt die Theaterfigur aus dem vorgegebenen Rollentypus heraus und entwickelt psychologische Individualität. Mit Shakespeare betritt der moderne Mensch die Theaterbühne. Seine Figuren sind ambivalent, die Situationen, in denen sie sich finden, vieldeutig. Das macht ihn brisant bis heute. Und sie haben alle ein Eigenleben. In Shakespeares Stücken ist der Autor unsichtbar. Er stellt grosse Fragen, ohne seine Verfassermeinung hinzuzudiktieren. So bleiben sie offen. Shakespeare denkt nach. Er erwägt, zweifelt, kalauert, schwärmt, reflektiert – und kann uns so dazu bringen, unsere eigenen Fragen zu stellen.