Carolin Emcke ist in diesen Tagen eine gefragte Persönlichkeit – sei es auf Podien an der Frankfurter Buchmesse, im Scheinwerferlicht von Fernsehkameras oder vor Mikrofonen unzähliger Journalistinnen und Journalisten. Und immer wieder gibt sie ihrem Entsetzen Ausdruck, wie stark sich in jüngster Zeit in Deutschland das Klima von Hass und Verachtung zugespitzt habe:
«Musliminnen wird am helllichten Tage das Kopftuch runtergerissen, Homosexuelle müssen sich vor Anpöbeleien fürchten, Jüdinnen und Juden werden unflätig beschimpft und in gewissen Talkshows herrscht ein schon fast unterirdisches Niveau.»
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Enthemmter Hass
Dass Menschen zu allem fähig sind, hat die Kriegsreporterin auf ihren vielen Reisen in Afghanistan, im Kosovo oder im Gazastreifen zur Genüge gesehen. Nie hätte sie es aber für möglich gehalten, dass auch vor ihrer eigenen Haustür eines Tages wieder – wie sie sagt – «so enthemmt gehasst werden könnte».
Diese fatale Entwicklung war mit ein Grund, warum sich Carolin Emcke – für ihr jüngstes Buch – intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und die unterschiedlichsten Formen anhand von Kurzvideos im Netz studiert hat. Dazu nahm sie die Hinrichtungs-Praxis der IS genauso unter die Lupe wie die Übergriffe weisser Polizisten auf Schwarze in den USA oder die Protestaktion aufgebrachter Bürger in Sachsen, die einen Bus mit Flüchtlingen blockierten.
Wer vom Hass profitiert
Heute ist die Publizistin überzeugt, dass kollektiver Hass nicht naturgegeben ist, sondern gezüchtet wird – in der Politik und in den Medien. «Es gibt immer Menschen, die sich davon mehr Wählerstimmen oder bessere Verkaufszahlen versprechen.»
Carolin Emcke nennt in ihrem Buch gewisse Merkmale, die Hassende aller Couleurs verbinde: die Selbstsicherheit, mit der sie sich auf ein Objekt einschiessen und der vage, ungenaue Blick. «Präzise lässt sich nicht hassen», schreibt sie im Vorwort, denn je präziser man ein Individuum wahrnehme, umso stärker wäre auch die Gefahr, dass Empathie oder Mitgefühl entstehen würden.
Kunst als Gegengift
Hier hakt Carolin Emcke auch ein. Nötig sei eine differenzierte Wahrnehmung. Und dazu brauche es andere Geschichten. «Wir müssen viel stärker darauf achten, dass wir diese heutige plurale, multikulturelle Gesellschaft auch abbilden – ob in Zeitungen oder Büchern, auf Kinoleinwänden oder Bühnen»
Die Kunst sei ein nicht zu unterschätzendes Gegengift zu jenen gefährlichen Denkmustern, die ein sehr begrenztes Weltbild propagieren. «Ich glaube, dass eben gerade Literatur oder Filme hier subversiv wirken könnten, weil sie die Fantasie und Vorstellungskraft weiten, und so wieder spürbar machen, wie es ist, sich in andere Leben und Erfahrungswelten hineinzuversetzen.»