Literatur kann Augen öffnen. Sie kann im Idealfall der Leserin eine überraschend neue Sicht auf die Wirklichkeit gewähren. Da hält die Genferin Pascale Kramer spielend mit den Besten des Fachs mit. Sie ist eine Spezialistin für die Macht der Gefühle. Eine der wenigen welschen Autorinnen übrigens, die früh in Paris Fuss gefasst haben. Familiengeschichten, die aus dem Ruder laufen, sind ihre Domäne. Das Private ist bei Kramer das Öffentliche, insofern, als die Zelle der Familie ein Spiegel der Gesellschaft ist.
Dies trifft auch auf Kramers neuen Roman zu. Der Schauplatz Kalifornien in «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» gibt ein akkurates Bühnenbild ab. Denn im Land des verzuckerten Sonnenscheins ist natürlich auch nicht alles Gold, was glänzt. Aus dieser Grauzone zwischen Schein und Sein schöpft die Seeleningenieurin Kramer ihre Stoffe.
Keine Mutterliebe nirgends
Das freudige Ereignis einer Geburt stürzt mehr Frauen, als man denkt, in eine gravierende Krise. Sie erleiden eine postnatale Depression und können sich in der Folge ihrem Baby völlig entfremden. Genau dieses Krankheitsbild trifft auf Alissa, die Hauptfigur von «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens», zu. Sie fühlt sich in der kalifornischen Sommerhitze am Pool ihrer Wohnanlage wie im freien Fall. Alissa ist ausserstande, ihre Mutterrolle zu finden, obwohl es ihr scheinbar an nichts mangelt. Ihre negativen Gefühle absorbieren den kläglichen Rest von Zuwendung für ihr Baby.
Alissa versucht wiederholt ihren Säugling auszusetzen. Zunächst noch ohne gravierende Folgen. Ehemann Richard ist taub für die Alarmglocken und die Nachricht von der Scheidung ihrer Mutter belastet Alissa zusätzlich. «Es herrschte vollkommene Ruhe» lautet der erste Satz des Buches. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Es herrscht in diesem vermeintlichen Idyll in einem Vorort von Los Angeles höchste Unruhe.
Zersetzender Golfkriegsveteran
Jim, der mit der Freundin Alissas verheiratet, ist eigentlich der grösste Verlierer von allen. Er ist schwerinvalid aus dem Golfkrieg von 2003 zurückgekehrt.
Von ihm geht eine offensichtlich zersetzende Macht aus. Denn er zieht Richard in seinen Bannkreis, was die Entfremdung des Paars beschleunigt. Und Alissa entdeckt ein Tattoo bei ihrem Ehemann, der mit Jim zu kiffen beginnt. Alissas Freundinnen ihrerseits bringen keinerlei Verständnis für die alarmierende Lage der liebesunfähigen jungen Mutter auf.
Hauptdarstellerin Sprache
Diesen Plot könnte man als ganz normalen Wahnsinn abtun. Aber Kramer gewinnt ihm den Mehrwert ab, den wir mit Gewinn lesen. Nämlich eine unheimliche, bedrückende Familiengeschichte, festgehalten in einer schneidend unerbittlichen Sprache: «Ihre Kehle war so trocken, wie wenn sie Sägemehl geschluckt hätte», heisst es, als Alissa die Hiobsbotschaft von der Scheidung ihrer Mutter vernimmt.
Die Autorin erzählt davon, wie sich Menschen, die vermeintlich eine enge Bande zusammenhält, schnell voneinander entfernen. Alissa ist gleichsam im Gefängnis eines mittelständischen Lebens gefangen. Die Mutter hat keinerlei Verständnis für die Not ihrer Tochter, nicht lieben zu können. Sie fragt Alissa vernagelt: «Warum musst du die Unglückliche spielen?»
Wir Leser wissen jederzeit mehr als die Figuren, die wie von unsichtbarer Hand gesteuert und fremdbestimmt sind. Sie kommen sich buchstäblich abhanden. Hilflos stecken sie in einem Sog. Dieser ist der Motor des Romans. Zu unserem Leseglück.