Der Wohlfahrtsausschuss ist umgezogen: Kurz ist der Weg vom 18. ins 21. Jahrhundert, wenn er vom Paris des Tugendterrors in das kalifornische Tal des Glücks führt – vom Pflasterstrand der französischen Revolution geradewegs ins «Silicon Valley». Sicher, ein Robespierre oder Saint-Just ist nicht in Sicht, dafür ein paar Andere. Die Namen: Eric Schmidt zum Beispiel, oder Mark Zuckerberg, oder Jeff Bezos. Oder: Google, Facebook, Amazon. Die Reihe kann fortgesetzt werden.
Gemeinsam ist ihnen das ganz grosse Glücksversprechen. Die schöne Welt des Neuen ist erreichbar, ganz nah, ein paar Änderungen noch, ein paar Klicks, ein paar Vorkehrungen – und alles wird gut. Tugend und Glück, Terror und Transparenz, das gehört zusammen. Damals wie heute, nur dass die Imperative weniger blutig sind, subtiler. Die Direktiven der Politik gehören jetzt zuerst der Wirtschaft. Unwiderstehlich ist die versteckte Gestaltungsmacht der Konzerne und die Firma ist ihr Zentrum.
Geheimnisse sind Lügen
Der «Circle» ist die Firma in Dave Eggers' neuem Roman. Aussenansicht und Innenleben des Circle gleichen dem künftigen Apple-Hauptquartier aus Stahl und Glas, das in Cupertino, Kalifornien gerade im Bau ist. Ein riesiges, kreisrundes Gebäude im Grünen für knapp 3000 Mitarbeiter.
Mae Holland ist eine der «Circle»-Angestellten. Sie ist die Neue und sie lernt schnell: «Geheimnisse sind Lügen», «Privatsphäre ist Diebstahl», «Sharing is Caring». Das sind die Leitsätze des Circle. Der Firma, die alle anderen geschluckt hat. Der Circle ist jetzt der Internetkonzern. «TruYou» heisst sein Konzept: «Ein Konto, eine Identität, ein Passwort, ein Zahlungssystem pro Person.» Ein Konzern für alle Daten und alle Dienstleistungen. Er weiss alles, er sorgt sich um jeden, so wie jeder Mitarbeiter sich um jeden anderen sorgt.
Es ist ein Wohlfahrtstaat im Kleinen, seinen Bürgern, den Angestellten, in tätiger Nächstenliebe zugewandt. Es gibt den Golfplatz und das 24-Stunden-Buffett mit Sterne-Koch, die gute Laune als Pflicht und das teleologische Weltbild gratis dazu: Das gute Ende ist machbar, ja fast schon erreicht. Man muss nur wollen – Und wer wollte da nicht.
Überwachen kann schön sein
Eine kleine Kamera gehört im Circle zur Grundausstattung. Sie wird am Hals getragen. Mae hat sie – und alle anderen haben sie auch. Schamlos ist das, aber auch das ist Programm. Wenn alle alles wissen, wird die Tugend zwingend und die Sorge nur noch eine erinnerte Vergangenheit. Keine Kriminalität mehr, keine Krankheiten und keine Korruption. «Heilen durch Wissen», so lautet die Idee.
Der Circle ist der innere Kreis der modernen Internet-Gesellschaft. Er ist repressiv, aber auf eine sanfte Art. Seine Repression fasziniert, weil sie sich so überaus attraktiv darstellt. Überwachen kann schön sein, straffrei und lustbetont. Und es gibt noch etwas, Maes Motiv: «Ich will gesehen werden. Ich will den Beweis, dass ich existiert habe.»
Die Vernetzung der Welt
«Der Circle» hat schon in den USA viel Aufsehen, aber auch Widerspruch bewirkt: Nicht sachkundig sei das ganze Szenario, der Autor wisse kaum, wovon er schreibe. Die deutsche Ausgabe steht jetzt ganz oben auf den Bestseller-Listen und findet Resonanz wie kaum ein Buch seit langem.
Dave Eggers' Roman bringt Orwells «1984» und Huxleys «Schöne neue Welt» auf den Stand der Dinge im 21. Jahrhundert. Das Sachbuch dazu stammt von Google-Chef Eric Schmidt und Jarred Cohen: «Die Vernetzung der Welt» heisst es. Schmidt ist sachlich kaum zu widersprechen und Eggers' Roman tut dies auch nicht. Alles liegt nur in der Wertung des Geschehens, im Blickwinkel und in den Vorzeichen
«Der Circle» ist dann die perfekte negative Utopie der Gegenwart. Die Grundannahme in Dave Eggers' Buch lautet: Die Zukunft ist schon da. Futur ist Präsens. Und das ist wirklich nicht schön. Wenn er recht hat, wird für ein Futur Zwei nicht viel Platz übrig sein. Das wäre traurig, nicht nur für die Sprache, sondern für uns alle.