Liebende, und das sind Lesende, stellen keine Fragen. Trotzdem: Was wirkt in dem «Kleinen Prinzen» über Generationen? Was macht ihn so kostbar?
Vielleicht der Zeitpunkt der ersten Lektüre? Jeder bewahrt sich doch seinen eigenen Klang dieser einfachen Sprache. Vielleicht mischt sich in diese Erinnerung noch das Baritontimbre einer alten zerkratzten Schallplatte, die Lese-Stimme von Gérard Philipe.
Der Text illustriert die Bilder
Jeder trägt seine eigenen Bilder vom kleinen Prinzen mit sich, von der Rose und dem Fuchs, unterfüttert von Saint-Exupérys Aquarellen. Ohnedies scheinen es vor allem die Zeichnungen zu sein, die im Buch den Vorrang haben: Der Text illustriert weit mehr die Bilder als umgekehrt. «Voilà le meilleur portrait que, plus tard, j’ai réussi à faire de lui», heisst es zum Beispiel in einer Bildlegende. In Deutsch: «Hier das beste Porträt, das ich später von ihm zuwege brachte.» Im Text ist der kleine Prinz an keiner Stelle beschrieben.
«Verbale Eselei» mit philosophischer Wahrheit
Vielleicht hat die nachhaltige Wirkung des Büchleins auch mehr mit der romantischen Vita des Autors zu tun als mit seinen literarischen Qualitäten. Jean-François Revels von der Académie française geht ein wenig weit: «Er hat den Franzosen gezeigt, dass eine verbale Eselei tiefe philosophische Wahrheit wird, wenn man sie vom Boden abheben lässt und auf 7'000 Fuss Höhe bringt.»
Aber der Anti-Intellektualismus, mit dem Saint-Exupéry «vécu» (Erfahrungen) gegen «logique» (Logik) ausspielt, wirkt schon ein wenig abenteuerlich.
Eine Geschichte des Wachsens
Eine neuerliche Lektüre jedenfalls verläuft durchaus kühler als die erste. Was erzählt Saint-Exupéry eigentlich? Es ist die Geschichte einer Reise. Kultbücher sind oft Reise-Erzählungen, Geschichten von Übergängen und Verwandlungen. Von Metamorphosen wie der des kleinen Prinzen, wo ein Geliebtes stirbt und in anderer Form wieder auflebt. Da erreicht Saint-Exupéry seine adoleszenten Leser im günstigsten Moment. Und er greift, mit einem ethnologischen Augenzwinkern betrachtet, tatsächlich auf überkulturell relevante Themen und Motive zurück.
Der herzenskluge Fuchs
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«Der kleine Prinz» erzählt in eindringlichem Mythen-Gestus einen «rite de passage», den Übergang von einer Lebensphase in die nächste. Er lässt dabei nichts aus, was wir an einschlägigen Mythen lieben: die Zwiesprache mit einem Tier so wenig wie die Jenseitsreise, alles ganz abseits der Zivilisation und in repetitiver, insistierender Märchen-Sprache.
Die Rose
«C’est le temps que tu as perdu pour ta rose qui fait ta rose si importante.» - «C’est le temps que j’ai perdu pour ma rose ... fit le petit prince, afin de se souvenir.» In Deutsch: «Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig.» - «Die Zeit, die ich für meine Rose verloren habe ..., sagte der kleine Prinz, um es sich zu merken.»
Saint-Exupérys Rose, nebenbei bemerkt seine Ehefrau Consuelo Suncin de Sandoval, hat ihre Sicht der unglücklich verlaufenen Liebesdinge in eigenen «Mémoires de la rose» dargestellt. Das ist die psychologische Anekdote - aber die Figuren des «Kleinen Prinzen» haben keine Psychologie. Auch dies führt sie in einen mythischen Raum, einen Raum, der universal zugänglich ist, in vielen Sprachen und Kulturen, und seit Kindertagen vertraut.
Dem Erwachsenen, als er ein Kind war
Den anhaltenden Charme des «Kleinen Prinzen» macht aber vielleicht noch etwas anderes aus. Nicht die sanft moralisierenden Verführ-Metaphern, nicht die sentimentalen Wahrheiten, sondern die wunderbar hybride Zeit, in der die Erzählung spielt. Wie Saint-Exupéry sie in der Widmung an seinen Freund Léon Werth beschwört, und im selben Atemzug revidiert: «A Léon Werth quand il était petit garçon». Dem Erwachsenen, als er ein Kind war.
Eine Kinderwelt der unbegrenzten Möglichkeiten
Damit rettet Saint-Exupéry einen Rest vom Früheren hinüber ins Neue; eine Kinderwelt der unbegrenzten Möglichkeiten, und dies ist vielleicht nicht bloss Regression, sondern auch das charmante Versprechen, dass alle Lebensmöglichkeiten immerzu offen stehen.
Das schätzen die liebenden Leser, und es ist am Ende der Schlüssel zu dem Buch mit dem Titel in Kinderschrift. «Je veux bien dédier ce livre à l’enfant qu’a été autrefois cette grande personne.» Das Kind, das der Erwachsene einst war: Das ist das zweite Reiseziel.