Der Sommer 1913 soll sehr kalt gewesen sein. Es ist der letzte Sommer vor der Katastrophe, dem Ersten Weltkrieg. Im August 1914 wird das Sterben beginnen, aber jetzt gibt es davon allenfalls eine Vorahnung. Gewiss hingegen sind die grossen Anfänge: 1913 ist das Jahr der revolutionären Neuerungen in Kunst und Kultur.
«Rilke hat Schnupfen»
Der Autor Florian Illies hat in seinem Buch «1913» den Ereigniskalender dieses aussergewöhnlichen Jahres beschrieben. Der Soziologe Max Weber spricht zum ersten Mal von der «Entzauberung der Welt», Konzeptkünstler Marcel Duchamp schraubt ein Rad auf einen Schemel und schafft das erste Ready-Made.
In Moskau entsteht das «Schwarze Quadrat» von Maler Kasimir Malewitsch, Schrifstellerin Gertrude Stein schreibt den berühmten Vers «A rose is a rose is a rose». Franz Kafka schreibt folgenreich an Felice Bauer, zwischen den Tiefenpsychologen Sigmund Freud und C.G. Jung kommt es ebenso folgenreich zum Bruch.
Und wo bleibt Rilke? «Rilke hat einen Schnupfen», heisst es lakonisch zum Monat März 1913.
Tagebücher und Briefe sind Illies Quellen
Der Autor Florian Illies ist als Geschichtsflaneur unterwegs. Er streift begeistert durch das bisweilen versteckte Terrain der Kultur, geht Umwege, bewegt sich auf Abwegen und taucht ein in die privaten Verhältnisse seiner Protagonisten. Tagebücher und Briefe sind seine Quellen, Klatsch und Tratsch scheut er nicht. Alles kann Dokument sein: Im Januar 1913 wird in Essen der erste Aldi Markt eröffnet, in Mailand gibt es die erste Prada-Boutique und der Stoff für Ecstasy wird patentiert.
Erschöpfung und Aufbruch
Neurasthenie ist einer der Schlüsselbegriffe der Epoche: Die Nervenschwäche wird zur Modekrankheit und zu einer Art Burn-out der Jahrhundertwende – jedenfalls bei jenen, die ins Blickfeld des Doktor Freud geraten. Erschöpfung und Aufbruch spielen ineinander: Alles geschieht gleichzeitig und nebeneinander.
Mit dieser Gleichzeitigkeit beschäftigt sich Autor Florian Illies. Es geht ihm um die zahllosen Parallelverläufe in Kultur und Zeitgeschichte. So entsteht das Panorama eines sehr besonderen Jahres. Am 31. Dezember 1913 notiert Arthur Schnitzler in sein Tagebuch: «Sehr nervös tagsüber». Es liest sich wie ein Kommentar des Kommenden.
Mit sprachlicher Verve arrangiert
Florian Illies ist kein Historiker. Die Analyse des Geschehens, Thesen zu den Ereignissen der Zeit liegen ihm fern. Illies ist ein Arrangeur, der souverän über sein Material verfügt und es mit sprachlicher Verve dramatisiert.
So gesehen liest sich dieser «Sommer des Jahrhunderts» auch wie ein literarischer Text. Aber das täuscht. Sachbuch oder Roman? Ein Sachbuch – und kein schlechtes.